Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Allmächtigen sozusagen. Da kommt der Respekt schon von allein. Und den darf man nie opfern auf dem Altar der Eitelkeiten, weil man es schick findet, sich Freunde zu machen. Nur ein Arzt, den man respektiert, den man fürchtet und liebt, ist im Dorf ein guter Arzt. Ein erfolgreicher Arzt. Damit sind wir beim geschäftlichen Teil.»
Hellen schmunzelte. «Sie dürfen ruhig du zu mir sagen, ich komme ja auch vom Dorf.»
Schon zwei Monate später war der Handel perfekt. Jon übernahm von Dr. Eggers die Praxis zu einem Preis, der sich nach der Zahl der Patienten richtete. Den wahren Wert machte die Patientenkartei aus, denn sie war die Basis für die vierteljährlichen Abrechnungen mit den Krankenkassen. Gebäude und Grundstück spielten in dem Paket nur eine untergeordnete Rolle. Eine Bank, die sich darauf spezialisiert hatte, jungen Ärzten ihre Praxis und ihre Zukunft zu finanzieren, gab das Geld. Im September veranstaltete Dr. Eggers ein Gartenfest, um sich von Luisendorf zu verabschieden und seinen Nachfolger vorzustellen. Es gab gegrilltes Spanferkel und Blasmusik, Lütt und Lütt, Tanz und Klatsch, letzterer angeführt von «der Zeitung». Johanna Kröger munkelte, daß die Freunde, zu denen Dr. Eggers nach Berlin zog, keine Freunde waren, sondern nur ein Freund. Aber das war eine andere Geschichte.
Jon und seine Familie lebten sich schnell ein. Philip, der jetzt zehn Jahre alt war, wäre am liebsten auf die Dorfschule gegangen, denn er hätte sich wie ein Prinz gefühlt, wenn er von seinem Großvater unterrichtet worden wäre. Aber seine Eltern entschieden, daß er gleich nach Albershude gehen sollte, und ein Schulbus, der jeden Morgen mit zischenden Türen an der Straßenecke hielt, brachte Philip zusammen mit den anderen Kindern in die Gesamtschule, wo er schnell Freunde gewann.
Die Praxis lief unter dem neuen Doktor von Anfang an gut. Er genoß das Vertrauen der Dorfbewohner. Hellen, die ja ein Semester Medizin studiert hatte, ehe sie, Jons und der Schwangerschaft wegen, das Studium abbrach, half ihrem Mann bei der Arbeit. Die Arzthelferin von Dr. Eggers hatte gekündigt und sich mit Mitte Fünfzig zur Ruhe gesetzt. Hellen empfing die Patienten, führte die Kartei, stellte Rezepte aus, verwaltete den Arzneischrank, die Apparate und das Materiallager, stand Jon, wann immer es nötig war, bei der Behandlung zur Seite, kümmerte sich um seine Korrespondenz, machte mit ihm die Quartalsabrechnungen.
Sie und Jon führten eine gute Ehe. Frei von Leidenschaften, Auseinandersetzungen oder Kämpfen, war es eine faire Partnerschaft, eine gute Freundschaft. Oft wurde Jon auch nachts zu den Kranken gerufen. Wenn er dann zurückkam, sein Auto – er hatte seinen Käfer an einen Kumpel verkauft und fuhr inzwischen einen Golf – auf der Garageneinfahrt parkte und müde das Haus betrat, stand Hellen meistens im Morgenmantel in der Halle, umarmte ihn, nahm ihm seinen Arztkoffer ab und hatte oben in der Küche einen Kräutertee für ihn gekocht oder ihm ein Glas Wein hingestellt. Dann saßen sie lange zusammen und unterhielten sich. Es gab nie Langeweile zwischen ihnen, sie hatten sich immer etwas zu erzählen. Hellen war an allem interessiert, sie nahm Anteil an der Dorfgemeinschaft und deren Geschichten, vor allem den Krankengeschichten. Nicht aus Neugierde, sondern wegen der Faszination, die das Thema Medizin nach wie vor auf sie ausübte. Sie wäre eine gute und leidenschaftliche Ärztin geworden, das war Jon klar, und er wußte auch, daß sie nur aus Liebe zu ihm diesen Beruf nicht erlernt hatte und ausübte. Um so mehr versuchte er, sie in alles mit einzubeziehen. Manchmal hatte er ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber.
Ihr Leben in Luisendorf war beschaulich, wohlgeordnet und in seiner Schlichtheit beglückend. Jon begann Rosen zu züchten. Philip war die meiste Zeit unterwegs, bei seinem Großvater, bei seinen Freunden, spielte irgendwo draußen in der Wildnis, ganz so, wie Jon es getan hatte, damals, in seiner Kinderzeit mit seiner Freundin Isabelle. Hellen, die schon immer ein Faible für Kunst gehabt hatte, entdeckte ihr früheres Hobby neu und fing wieder an zu malen. Jon hatte ihr eine Staffelei geschenkt, Leinwand, Pinsel und Farben.
An einem leuchtenden Spätnachmittag im September stand Hellen unter der alten Eiche am Ende des Gartens vor ihrer Staffelei und malte das Wäldchen hinter dem Grundstück. Noch immer strahlte die Sonne. Ein paar verträumte Wolken schienen im Himmelsblau zu schlafen. Es war
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