Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Nacht. Sie schöpfte aus einer nicht versiegenden Quelle von Kraft und Kreativität. Sie hatte Spaß daran, zu entwerfen, zu bestimmen, zu lenken. Sie genoß es, bewundert zu werden, Erfolge zu erzielen, Geld zu haben. Das Schuften und Schwitzen gehörte zu ihr wie eine zweite Haut, sie konnte nicht mehr darauf verzichten.
Alles andere um sich herum vergaß Isabelle. Sie vergaß, daß es ein Privatleben gab. Sie vergaß alte Freundinnen und Freunde. Sie vergaß Gretel Burmönken, sie vergaß ihre Mutter. Es fehlte ihr an der Zeit, die beiden zu besuchen, es fehlte ihr an der Kraft, es fehlte ihr an der Lust. Je erfolgreicher Isabelle wurde, desto mehr verlor sie das Gefühl dafür, woher sie kam. Sie hatte ihre Wurzeln nicht vergessen. Aber sie spürte sie nicht mehr, denn sie lebte in einer anderen Welt.
Manchmal, wenn sie nachts im Bett lag, allein, nachdachte, sich ein paar Notizen machte, die Nachttischlampe ausknipste, wenn dann von draußen die Schatten der Nacht hereinfielen und sie nicht einschlafen konnte, sich unruhig hin und her wälzte und schließlich doch zu einer Schlaftablette griff, die sie müde werden ließ und in einen Zustand des Dämmerns versenkte: dann kroch es wieder hoch, das längst verloren geglaubte Gefühl, die Erinnerung, die Sehnsucht. Sie hatte einen Namen: Jon.
Dritter Teil
Jon
Kapitel 22
Danke, Herr Doktor!» Johanna Kröger erhob sich von ihrem Stuhl und schlurfte zur Tür.
«Hochlegen und ruhig halten!» Jon stand auch auf und begleitete sie hinaus. «Nicht radfahren, denken Sie dran.» Er beugte sich ein wenig zu Johanna Kröger hinunter. «Und Sie können ruhig weiter Jon zu mir sagen, wie früher auch!» Er grinste. «Aber erzählen Sie's nicht weiter!»
Sie lachte meckernd. Dann ging sie langsam, das entzündete Bein nachziehend, an den anderen Patienten im Wartezimmer vorbei und verließ die Praxis.
«So. Und nun der nächste, bitte!» sagte Jon freundlich lächelnd. «Ich glaube, Sie, Herr Schmidt, nicht? Kommen Sie?»
Seit zwei Jahren war Jon Rix – Dr. Jon Rix – nun schon der Arzt von Luisendorf. Er hatte die Praxis seines Vorgängers Dr. Eggers übernommen. Der alte Arzt hatte ihn eines Tages vor der Dorfschule angesprochen, als Jon gerade seinen Vater besuchte.
Richard Rix hatte sich im Laufe der Jahre sehr verändert. Er hatte auf einer Studienreise eine Frau kennengelernt und sich mit ihr angefreundet. Sie war Witwe, kam aus Bremen und lebte die meiste Zeit des Jahres auf Teneriffa. Wann immer er konnte, flog Jons Vater auf diese Insel. Die neue Liebe, die Sonne und die viele freie Zeit verwandelten ihn. Er war umgänglicher geworden, milder. Im Dorf war er mittlerweile akzeptiert, man mochte ihn, selbst seine Schüler fürchteten sich nicht mehr vor ihm und saßen gern in seinem Unterricht. Hinzu kam, daß Richard Rix in seinem Enkelsohn Philip einen neuen Lebenssinn gefunden hatte. Er war vernarrt in ihn. Alles, was er wußte und schätzte, versuchte er ihm zu vermitteln. Seine Schmetterlingssammlung führte er ihm vor, unternahm mit ihm Touren zu Fuß und per Rad und brachte ihm, wie damals seinem Sohn, die Natur nahe. Philip durfte überall im Schulgebäude herumtoben, in seiner Bibliothek und auf dem Dachboden stöbern, er erlaubte dem Kleinen alles und sah ihm alles nach. War er Jon gegenüber unnachgiebig und streng gewesen, zeigte er nun eine vollkommen andere Seite. Er war der liebevolle, gemütliche, fröhliche Großvater, und Philip liebte ihn und war wild darauf, sooft es ging, mit den Eltern von Hamburg nach Luisendorf zu fahren und ihn zu besuchen.
Bei einem dieser Wochenendbesuche – es war ein praller Sommertag und sie tranken hinten im Garten Kaffee und aßen Kuchen – kam es zu der Begegnung zwischen Jon und Dr. Eggers. Der Arzt war mit seinem Auto auf der Hauptstraße entlanggefahren und hatte auf dem Platz vor der Schule Jon gesehen. Er fuhr heran und stieg aus. Jon war damit beschäftigt, aus dem Käfer eine Tasche mit Büchern zu holen, Bücher, die sie sich von seinem Vater ausgeliehen hatten.
«Na, min Jung?» sagte Dr. Eggers.
Jon kroch aus dem Auto heraus und begrüßte den Dorfarzt.
«Was machst du so?» fragte er den jungen Rix.
«Ich bin jetzt seit einem Jahr Assistenzarzt in Hamburg, im Marienkrankenhaus!» erklärte Jon. «Es gefällt mir gut, und ich lerne da viel.»
«Und danach? Schon Pläne?»
«Ich habe Familie, das schränkt natürlich ein, aber ... ich würde gern für einige Zeit ins Ausland gehen,
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