Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
gemeinsamen Reise in das norditalienische Biella hatte sich eines nicht geändert: die beiden Frauen teilten sich noch immer ein Bett. Es gab Gemunkel deswegen. Aber, wie so oft, ohne Grund. Nichts lag ihnen ferner, als ein Verhältnis zu haben. Es war eine liebenswerte Tradition, eine kleine Marotte – Isabelle, die von ihrer Dachwohnung in Hamburg längst in ein Penthouse an der Alster gezogen war, schlief nicht gerne allein. Schon gar nicht bei Anlässen wie diesem, wo Lampenfieber sie quälte und Versagensangst. Auch da war Patrizia der Fels in der Brandung, der Wind unter Isabelles Schwingen, die Eiche im Sturm.
Isabelle ging durch den Salon. Auf dem Tisch stand ein Blumenbukett mit einer Begrüßungskarte des Hoteldirektors. Von der Obstschale nahm sie ein paar Trauben, rieb sie kurz an ihrem Ärmel ab und aß sie. Auf dem Tisch lag bereits ein Stapel Post. Weil sie längere Zeit unterwegs gewesen war, hatte sie angeordnet, man solle ihr alles vom Hamburger Büro hierher nachschicken. Sie blätterte die Post durch. Es waren überwiegend Einladungen, ein paar Faxe, einige Telegramme. Ein Brief war darunter, der ihr auffiel. Er hatte einen schwarzen Rand. Sie besah ihn näher. Er hatte eine deutsche Briefmarke, abgestempelt in Albershude. Isabelle erschrak. Mit dem Obstmesser schlitzte sie ihn auf. Es war eine Todesanzeige, die Jon ihr geschickt hatte.
«O Gott ...»
Patrizia kam herein. «Wir müssen ...»
Isabelle ließ die Karte sinken. «Ich komme ...», sagte sie ernst. «Alles okay?» fragte Patrizia und legte freundschaftlich den Arm um ihre Chefin.
«Ja», antwortete Isabelle, «alles okay.»
Der Saal war doppelt so groß wie der im Atlantic-Hotel in Hamburg, in dem Isabelle in den vergangenen Jahren immer gezeigt hatte. Es gab eine Bühne, einen langen, breiten Laufsteg, und vor allem gab es eine Sitzordnung. Patrizia ging sie mit dem jungen Franzosen, der extra dafür engagiert worden war, genau durch. Sie schritten die Reihen links und rechts des Laufstegs ab und verglichen die seitenlange Liste der geladenen Gäste. Es gab eine strenge Hierarchie. Links saßen die Einkäufer, rechts die Journalisten. Die ersten Reihen waren reserviert für die VIPs, die very important persons – Chefredakteurinnen, Chefeinkäufer großer internationaler Läden und Kaufhäuser, Prominente. Die Namensschilder, die an den Rückenlehnen der Stühle angebracht waren, lasen sich wie ein Who's who der Modeszene. Mittendrin, erste Reihe Mitte, standen zwei Namen, die dem Franzosen nichts bedeuteten, vor denen Patrizia aber nun kurz stehenblieb und mild lächelte: Ida Corthen, Gretel Burmönken. Stets erhielten die alten Damen einen Ehrenplatz bei den Modenschauen, und das war auch diesmal nicht anders. Isabelle hatte sie einfliegen lassen. Staunend und eingeschüchtert saßen sie in der Halle des Interconti, beide in schlichten Belle-Corthen-Kleidern aus Seide, eines in Flieder, das andere in Taubengrau, hatten ihren schönsten Schmuck angelegt, Bernstein, Koralle, Perlmutt und Topas. Am Vortag waren sie beim Friseur in Blankenese gewesen, durften erster Klasse anreisen und im Hotel wohnen. Sie waren Fremde in einer fremden Welt. Die schwarzen Vögel flogen an ihnen vorbei, piepsten, flöteten, flatterten; Geschäftsleute marschierten mit wichtigen Mienen heran; Fotografen schleppten ihre wuchtigen Ausrüstungen herbei; Ida und Gretel waren wie bei einem Tennismatch nur damit beschäftigt, ihre Köpfe von links nach rechts zu drehen und von rechts nach links, sie dachten Ah! und Oh! und sie sagten «Nu guck dir das an!» und «Das gibt's doch nicht!»
Die großen, weißen, goldverzierten Türen öffneten sich. Die Horden begehrten Einlaß. Es war ein unfaßbares Gedränge. Kontrolleure ließen sich Eintrittskarten und Presseausweise zeigen; wie Verkehrspolizisten lenkten sie den Strom in diese und in jene Richtung, erlaubten, untersagten, blieben streng, ließen sich erweichen, fühlten sich, fünfzehn Minuten lang, mächtig und prächtig, als Könige eines wunderbaren Reiches.
Es wurde geschubst und geschimpft, gebeten und gebettelt, das kühle, distanzierte Gehabe verwandelte sich in offenen Kampf, als ginge es nicht mehr um eine Modenschau, sondern ums nackte Überleben. «Was glauben Sie, wer ich bin!» schrie eine Dame auf französisch und schlug mit einer Modezeitschrift auf einen Ordner ein. «Meine Kollegin hat meine Karte, sie ist drinnen, lassen Sie mich doch rein», rief eine andere auf englisch und in
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