Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
machten und ihm Sinn gaben.
Isabelle seufzte. Ach, wenn Carl doch nur wieder gesund wäre und ihr helfen würde. So wie er es damals getan hatte. Sie erinnerte sich an ihren ersten Besuch in seinem Stofflager. Daran, wie er ihr, dem dreizehnjährigen Mädchen, alles erklärt und gezeigt hatte, mit welcher Liebe er Ballen befühlt und dann mit einer kräftigen Bewegung eine Bahn nachtblauen Samtes ausgeworfen hatte. Sie hörte auf einmal wieder das Geräusch des Stoffes, sah, wie er im staubigen Licht des Speichers hochflog und zu Boden sank. Sie fühlte wieder, wie in jenem kindlich frohen Augenblick, diese längst verlorene Sehnsucht nach dem Schönen, nach Erfüllung, nach Glück.
Isabelle lächelte. Sie dachte zurück an ihre Schneiderlehre im Salon Mandel, als sie allabendlich auf den Knien durch das Atelier gerutscht war, den Magneten in der Hand, und die Stecknadeln aufsammeln mußte, die die Meisterin so achtlos hatte herumfliegen lassen. Plötzlich kam ihr Remo wieder in den Sinn und ihre Flucht nach Paris, das Nähen in den Werkstätten unter den Dächern der Rue de Rivoli, wo sie mit schmerzenden, fast blutigen Fingern Perlen auf Abendroben aufsticken mußte. Tausende. Abertausende. Paris, kalte Stadt. Die schreckliche Zeit ohne Arbeit, ohne einen Sou, ohne Essen, ohne Remo, von dem sie nie wieder etwas gehört hatte, die schreckliche Zeit, an deren Ende die Rückkehr nach Hamburg stand, die Übernahme des Salons, der erste Erfolg, die erste Kollektion, und dann überstürzten sich in ihrem Kopf die Ereignisse, polterten durcheinander, schienen nicht mehr zusammenzupassen, und diese Angst stieg wieder auf, diese Panik, alles falsch angefangen zu haben, alles falsch gemacht zu haben, einer Liebe nachgehetzt zu sein, die nur im kurzen Aufbranden des Beifalls links und rechts des Laufstegs bestand, in Lobhudeleien, in Reichtum, im Gefühl von Macht.
Jon, murmelte sie, Jon. Ach, könnte sie doch weinen, so wie früher. Er war untrennbar mit ihr und dem allen verbunden. Er war die andere Seite all dessen. Er war immer ihre Sehnsucht, immer ihre Hoffnung, immer ihre Liebe; er wäre ihr Leben gewesen. Doch nun war es längst zu spät. Hätte sie ihn anrufen sollen, damals, als ihr alles entglitt? Hätte sie ihm gestehen müssen: Ich brauche dich?
Sie drehte sich wieder auf den Rücken. Er schmerzte. Fehlt nur noch, daß ich jetzt alt werde und gebrechlich, dachte sie, Patrizia würde mir ganz schön den Marsch blasen. Einen Moment lang lächelte sie. Dann blickte sie zum anderen Ende des Schlafzimmers hin, das so groß war wie andernorts eine Wohnung. Dort hing, über der chinesischen Lackkommode und im Halbdunkel kaum zu erkennen, Monets Seerosenteich. Durch einen Spalt der Gardinen drang ein Streifen Sonnenlicht herein und fügte zu den gemalten ein paar echte Lichttupfer auf die Blütenblätter. Ja, so war ihr Seerosenteich auch gewesen, damals in den Luisendorfer Kindertagen, so hatte sie ihn in Erinnerung, so flirrend, so warm, so schön. Noch einmal zurück. Noch einmal dorthin. Doch Isabelle hatte das Gefühl, nie wieder die Kraft für einen solchen Schritt zu finden.
Was für eine Anstrengung war es gewesen, vergangene Woche ihr Bett, ihr Schlafzimmer, ihre Wohnung, das Hampshire House zu verlassen, zur Park Avenue zu gehen, in dem vollbesetzten Auktionssaal bei Christie's ihren Platz einzunehmen und, geschützt durch ihre Sonnenbrille und die Eleganz ihres selbstentworfenen Kaschmir-Hosenanzugs, mitzubieten.
Sieben Millionen Dollar. Es war sehr still geworden im Publikum, als die beiden Männer das Los Nummer 148, Seerosenteich, Claude Monet, 1902, zweihundert mal einhundert Zentimeter, hereingetragen und auf die Staffelei rechts vor den Pulten der Auktionatorin aufgestellt hatten. Sie war eine sehr junge und sehr elegante Frau und hatte in den Augen jenen Ehrgeiz, den Isabelle so gut kannte. Jede ihrer Bewegungen, jeder Satz war perfekt, wie vor einem Spiegel einstudiert. Keine Reaktion der Bieter, keine Geste, keine Regung ihrer Kollegen, die links im Saal hinter Schreibtischen saßen und die telefonischen Gebote entgegennahmen, entging ihr.
Neun Millionen fünfhunderttausend. Und da: Eine Hand hob sich, ein bärtiger, fülliger, fast ungepflegt aussehender Mann, bekleidet mit kariertem Holzfällerhemd, Kordhose und Strickweste, den Isabelle auf Anfang Sechzig schätzte, bot zehn Millionen Dollar. Isabelle schaute nur einmal kurz zur Seite – sie saß links des Ganges in der zweiten Reihe, er
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