Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
streichelte sie liebevoll. «Ich habe ein paar Jahrzehnte gebraucht, um den Mut zu finden, oder sagen wir, mir das selbst einzugestehen ... daß ich als Junge ... als Medizinstudent ... selbst während der langen Jahre meiner Ehe ...» Er zögerte, alles auszusprechen. «Du warst immer hier ...» Jon tippte sich mit dem Zeigefinger an die Brust.
«Jon ...», sagte sie kaum hörbar. «Hör auf ... ich kann mich nicht mehr wehren ... du darfst mir nicht auch noch weh tun ...»
Er antwortete sehr ruhig, wie ein Mann, der genau weiß, was er will, der einen langgehegten Plan endlich in die Tat umsetzen will, keinen Widerspruch duldet. «Laß hier alles zurück. Vergiß New York. Ich bin gekommen, um dich endlich nach Hause zu holen. Komm mit mir. Es ist besser so ... für uns beide.»
Kapitel 31
Überrumpelt von Jon, überwältigt von seinem Wunsch und seiner Beharrlichkeit, faßte Isabelle neuen Lebensmut. Sie schlug Jon vor, als ihr Gast in einem der vier Master-Bedrooms zu übernachten, doch er hatte bereits im Essex House, einem direkt neben dem Hampshire House liegenden Hotel, Quartier bezogen und ließ sich auch nicht davon abbringen, dort zu schlafen. In den nächsten Tagen trafen sie sich jeden Morgen zum Frühstück bei Isabelle. Der Doorman kannte Jon schon am zweiten Tag und begrüßte ihn mit Namen, meldete ihn oben an und brachte ihn mit dem Lift hinauf bis vor die Wohnungstür. Die gleichgültige Eleganz des Zwanziger-Jahre-Hauses, das einmal als Hotel konzipiert und gebaut worden war und nun wohlhabenden Menschen als Refugium diente, irritierte Jon. Nie sah man die Bewohner. Die Lobby in schwarzem Marmor, mit einem falschen Kamin, verstaubten Seidenblumensträußen und einer Sitzgruppe, die von einem vierteiligen Paravent abgeschirmt wurde, war meist menschenleer. Hinter einer Panzerglasscheibe saß der Concierge in Anzug und Krawatte und verwaltete mit finsterer Miene Postfächer und Wohnungsschlüssel. Ein Wachmann behielt hinter einem schlichten Schreibtisch alle Besucher im Auge. Überall waren Kameras angebracht, die ihm erlaubten, über einen kleinen Bildschirm jeden öffentlichen Winkel des Hauses zu kontrollieren. Auf den Fluren – dicke Läufer, Seidentapete, englische Stiche an den Wänden – begegnete man ab und zu einem der Hausmädchen, meist ältere schwarze Frauen, die in blauen Kittelkleidern und weißen Spitzenschürzen ihre Wagen mit frischen Handtüchern und Reinigungsutensilien vor sich herschoben und höflich und knapp grüßten. Ansonsten herrschte Totenruhe. Vor den Türen zu den Wohnungen lagen Zeitungen, manchmal hing am silbernen Türknauf eine Plastiktüte mit Post. Es gab antikisierende Klingelknöpfe aus Messing, aber keine Namensschilder. Wer im Hampshire House wohnte, legte Wert auf Diskretion. Die Liste der Mieter wurde wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Viele Prominente hatten dort ihr Zuhause, man munkelte, Greta Garbo habe einst dort gelebt; Frank Sinatra und Ava Gardner. Einmal sah Jon in der Lobby Luciano Pavarotti, der aus einer weißen Stretch-Limousine ausgestiegen war, einen Jeanshut trug und ein gewaltiges kariertes Tuch um den Hals geschlungen hatte. Hinter ihm ging eine junge Frau mit Brille und schleppte schwere Einkaufstüten von Saks und Bergdorf Goodman hinter ihm her. Sekundenkurz wehte der wuchtige, bärtige Mann durch die Halle und verschwand wieder, als gäbe es ihn gar nicht, im Lift.
Die Atmosphäre in Isabelles Wohnung war nicht sehr anders. Man konnte sich in den Räumen und Fluren verlaufen. Im Eßzimmer, hypermodern eingerichtet, stand ein Tisch aus Glas, an dem vierundzwanzig Personen Platz gefunden hätten. Doch sie saßen nur zu zweit dort. Es hätte nahezu unheimlich sein können, wären sie nicht zusammengerückt und hätten sich, bei Tee und Orangensaft, halben Grapefruits, Toast, Spiegeleiern mit Speck, Hähnchensalat, Käse und Joghurt über alte Zeiten unterhalten, die dabei so lebendig wurden, als wäre alles erst gestern gewesen.
Isabelle hatte sich einen Ruck gegeben. Sie trug sportliche Kleidung, hatte die Haare gewaschen und frisiert, sich geschminkt und parfümiert und zeigte sich lachend und plaudernd von ihrer schönsten, ihrer herzlichsten, ihrer fröhlichsten Seite. Als sie am Ende des Frühstücks nach ihrer Pillendose griff, nahm Jon sie ihr weg.
«Ich mache dir einen Vorschlag. Ich gebe ab sofort deinen Hausarzt, und du nimmst nur noch die Tabletten, die ich dir zuteile, okay?»
Sie erklärte sich einverstanden. Jon
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