Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
ging in ihr Bade- und Schlafzimmer, ließ sich die Berge von Medikamenten zeigen und sortierte aus. Dreiviertel aller Tabletten warf er in eine große Mülltüte. «Ich weiß es, daß es nicht einfach für dich ist. Aber laß uns diesen Weg gemeinsam gehen. Vertrau mir einfach. Und versuch nicht, mich irgendwie auszutricksen.» Er schmunzelte. «Ich brauche dir nur in die Augen zu sehen. Dann sehe ich alles.»
«Das fängt ja gut an.»
«Es wird noch besser!»
Es war phantastisches Wetter, die Sonne strahlte, aber weil von Kanada her ein frischer Wind durch die Stadt wehte, war es nicht zu warm, sondern angenehm kühl. Endloser blauer Himmel, als wäre hoch oben ein Tuch aus Seide gespannt worden, Prosecco-Luft und Bäume, größer und grüner als überall sonst auf der Welt – New York schlug einen Trommelwirbel und lockte Isabelle und Jon hinaus in den Central Park, hinein in den Trubel. Hupende Yellow Cabs, trabende Pferde, die Kutschen zogen, muskulöse Rollerblader, die auf dem Asphalt ihre Runden drehten, Verliebte, die Arm in Arm auf den Bänken saßen.
Familien picknickten auf den Rasenflächen. Junge Mädchen lagen im Gras und sonnten sich. Hinter einem meterhohen Zaun spielten Jugendliche lärmend Ball. Touristen hielten mit Fotoapparaten und Videokameras fest, was sie sich erst zu Hause ansehen wollten. Alles blühte. Hunde rasten durchs Gebüsch. Am Wegesrand standen Zauberer, Akrobaten, Hot-dog-Verkäufer. Ein Brunnen, an dessen Rand Studenten saßen und ihre Nasen in Bücher steckten, plätscherte, für immer und ewig. Über einen künstlichen See zogen gemächlich Ruderboote und Schwäne. Über allem lag Lärm. Der Lärm New Yorks: Autos, Kofferradios, Krankenwagen, Stimmengewirr, Gelächter, Gekreische. Es war ein Zirkus.
«Ich habe das Gefühl, ich war die ganze Zeit tot!» Isabelle hakte sich bei Jon unter. «Erzähl mir von Luisendorf.»
Von seinem Sohn sprach Jon zuerst. Daß Philip jetzt schon vierundzwanzig Jahre alt sei, ein wunderbarer, liebevoller Sohn, mit dem er sich bestens verstehe und der seit letztem Herbst in Madrid lebe und dort Spanisch studiere. «Schriftsteller will er werden», erklärte Jon lachend, «Schriftsteller!»
«Der Apfel ...»
«Vielleicht schreibt er ja eines Tages unsere Geschichte auf!» «Unsere Geschichte?» fragte sie. «Haben wir denn eine?»
«Nicht?»
Statt einer Antwort umfaßte sie seinen Arm etwas fester.
Dann erzählte er von seinem Vater. Daß die Schule in Luisendorf längst geschlossen und nach einer wechselvollen Geschichte – erst Jugendclub, danach Restaurant, dann leerstehend und verfallend jetzt Wohnhaus für eine Großfamilie sei, die von Berlin ins Dorf gezogen war und dort ein alternatives Leben führen wollte. Daß Richard Rix heute pensioniert sei und auf Teneriffa lebe, an der Seite seiner langjährigen Lebensgefährtin. Isabelle erkundigte sich nach allen alten Bekannten und Nachbarn: Fritz Schmidt hatte seinen Gasthof verkauft und lebte im Altenheim in Albershude; die Kinder vom alten Bäcker Voss führten seinen Laden weiter, hatten das Geschäft ausgebaut und backten Bio-Brote, die sie sogar bis nach Hamburg verkauften; die Familie von Lenkwitz gab es nicht mehr. Isabelles Elternhaus, in dem die letzten Nachkommen des Adelsgeschlechts gelebt hatten, war abgerissen worden. Auf dem Grundstück stand inzwischen ein Supermarkt.
«Ansonsten aber, wenn ich es mir so recht überlege ... alles beim alten, unverändert, beschaulich und, wenn man so will und wenn man es mag: idyllisch, friedlich und schön.»
«Und ‹die Zeitung›?»
Beide lachten.
«Johanna Kröger, du wirst es nicht glauben, hat sich in dem Punkt überhaupt nicht geändert. Ich breche jetzt die ärztliche Schweigepflicht, aber ...», er lächelte, «wenn jemand Verständnis dafür hätte, dann sie. Sie hatte kaputte Beine – ich erspare dir Details –, konnte nicht mehr mit dem Rad durchs Dorf karjuckeln, sie humpelt, geht inzwischen am Stock, langsam wie eine Schildkröte, aber das hindert sie nicht, weiterzumachen mit ihrer Lieblingsbeschäftigung! Sie klatscht und tratscht, es ist nach wie vor ihr Schönstes, Neuigkeiten zu überbringen, und sie kommt auch bei mir manchmal nur auf einen Klönschnack vorbei. Du mußt wissen, der Dorfarzt ist oft auch so eine Art Seelentröster ...»
«Das kann ich bei dir gut verstehen, Jon.»
«Die Alten beschäftigen sich doch mit ihren Zipperlein nur deshalb so intensiv, und das ist in Luisendorf nicht anders als in
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