Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Stunde, kurz bevor Isabelle nach Amerika umgezogen war, gestanden hatte: Puppe war ein freches Mädchen gewesen im Berlin der dreißiger Jahre, unbedarft, lebenslustig, gierig nach Anerkennung und Erfolg. Dann hatte sie sich in einen Mann verliebt, dessen Eltern eine Konfektionsfirma besaßen. Er war Jude. Sie heirateten. Dann kam der Nationalsozialismus. «Der Betrieb wurde arisiert. Hinter diesem schrecklichen Wort verbarg sich der Untergang einer ganzen Familie. Der Untergang der Zivilisation.» Puppe versteckte ihren Mann in der gemeinsamen Wohnung, gab vor, sich von ihm getrennt zu haben und nicht zu wissen, wo er sei. «All die Jahre über, Jon, hielt sie ihn versteckt – in der Speisekammer. Und kurz vor dem Ende ... der Befreiung ... hat ihn eine Nachbarin verraten. Er wurde abgeholt. Sie haben sich nie wiedergesehen.» Isabelle senkte den Kopf. Jon hatte aufgehört zu essen.
«Und weißt du, was ich bis heute nicht verstanden habe? Wie sie weitermachen konnte. So weitermachen konnte: In Hamburg einen Salon eröffnen, sich allem stellen, in dieser leichtlebigen Branche Erfolge haben, sich Tag für Tag mit Mädels wie mir abgeben ... Sie ist die Frau, die ich am meisten bewundere. Sie ist ein Vorbild. Dagegen sind meine Sorgen doch lächerlich, oder?» Sie tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel ab. «Entschuldige ... entschuldige, ich wollte dir mit der Geschichte nicht ...»
«Jedenfalls ist sie nicht weggelaufen.»
«Nein, das ist sie nicht.»
«So wie du immer ...»
«Manchmal frage ich mich, wieso du eigentlich hergekommen bist.»
«Das habe ich dir doch gesagt.»
«Wir verbringen eine wunderschöne Zeit zusammen, und doch habe ich das Gefühl, als läge etwas zwischen uns, als wärst du nicht einverstanden mit mir. Ich frage mich, ob du und ich ...» Sie kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn der Oberkellner trat an den Tisch, um sich zu erkundigen, ob sie zufrieden seien. Nachdem er sich entfernt hatte, kamen sie auf ein anderes Thema zu sprechen. Isabelle nahm sich fest vor, nicht mehr über Probleme zu reden. Sie wollte nur noch die Zeit mit Jon genießen. Deshalb faßte sie einen Plan. Sie wollte ihn überraschen und ihm eine Freude machen.
Als er am nächsten Morgen vor ihr stand, in seiner neuen Khakihose, die sie gestern für ihn gekauft hatte, und seinem hellen Polo-Shirt, eröffnete sie ihm, was sie vorhatte: «Ich besitze ein Haus auf Long Island ... in East Hampton, also ein Häuschen, will mal sagen, eine Salt Box, wie die Amerikaner es nennen, in den Dünen, direkt am Meer ... Und da fahren wir heute hin!»
Jon war überrascht, wie beiläufig Isabelle darüber redete, ein Haus am Meer zu besitzen. Sie gab nicht an damit, aber daß es etwas so Selbstverständliches für sie war, irritierte ihn, machte ihn sprachlos, kleinmütig sogar. Ihr Leben schien tatsächlich weit weg zu sein von dem normaler Menschen, weit weg von dem, was er gewöhnt war und ihr bieten konnte. Eine Wohnung in New York! Ein Haus in East Hampton!
Elena kam aus der Küche und trug einen Picknickkorb in die Halle. Sie begrüßte Jon und fragte, ob die beiden jetzt ihr Frühstück einnehmen wollten. Sie bejahten und gingen ins Eßzimmer.
«Hast du Lust?» fragte sie und tat sich einen Klecks Cottage Cheese auf ihr getoastetes Muffin.
«Du lebst in einer anderen Welt», sinnierte Jon, während er Tee eingoß. Ein wenig kriegte er es mit der Angst zu tun, der alten Angst, daß ihrer beider Leben unvereinbar wären. Doch dann überwogen seine Freude und seine Neugierde. Nachdem sie fertiggefrühstückt hatten, ging Jon ins Essex House zurück und packte eine Reisetasche mit Sommersachen und Badezeug. Isabelle hatte vorgeschlagen, daß sie für eine Woche ans Meer fahren sollten.
«Jeder anständige New Yorker flieht in dieser Zeit vor der Hitze der Stadt, zumindest am Wochenende. Alle haben ein Domizil in den Hamptons, meist gemietet. Die Leute teilen sich die Miete für die Sommermonate und verbringen in ganzen Rudeln ihre Sonntage auf dem Land. Es ist wunderschön. Du wirst sehen.»
Sie hatte einen Fahrer bestellt, der sie mit einem Cadillac über die Brooklyn Bridge chauffierte, hinaus aus New York. Gemächlich glitt der Wagen über den Highway, durch Wohnsiedlungen und Industriegebiete, vorbei an gigantischen Friedhofsanlagen und nicht enden wollenden Vorstadtvierteln. Nach und nach schrumpften die Hochhäuser, verschwanden schließlich ganz, und es wurde grün und grüner. Ab und zu passierten sie
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