Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
folgte ihm. Am Ende des Raumes blieb er stehen, zog einen Ballen heraus, rollte ein paar Meter ab und warf dann mit einer kräftigen Bewegung die Bahn nachtblauen Samtes aus, als wollte er sie Isabelle zu Füßen legen. «Faß ihn mal an! Das ist der schönste, weichste, beste Samt, den es gibt.»
Isabelle ging in die Knie. Vorsichtig strich sie über die schimmernde Oberfläche. Carl beobachtete sie dabei, tat jedoch so, als würde er die Warenkartei, die auf dem schmuddeligen Pult des Lagermeisters stand, durchsehen. Auf einmal stand Isabelle wieder auf, ließ den Samt jedoch nicht los, sondern zog ihn mit sich hoch. Und ehe er sich's versah, hatte sie den Stoff um sich geschlungen, in Falten geworfen, drapiert zu einem Abendkleid. Sie ließ ihn wieder fallen, knöpfte ihren Mantel auf, schleuderte ihn in die Ecke, nahm den Samt, legte ihn sich zunächst stolagleich um die Schultern, um ihn schließlich in einen Rock zu verwandeln, der aus geschickt arrangierten Meereswellen bestand. Ein paar Schritte ging sie damit auf und ab.
Verblüfft sah Carl ihr zu. Es schien, als wäre in diesem Augenblick ein Mensch seiner Bestimmung zugeführt worden. Isabelle warf den Samt zu Boden. Ohne zu fragen und ohne ein Wort zu sagen, ging sie, während sie mit der Hand jenen Querbalken der Regale berührte, daran entlang, befingerte diesen oder jenen Ballen, befühlte liebevoll den einen oder anderen Stoff und nahm sich schließlich ein Reststück blaßblauer chinesischer Rohseide heraus. Sie legte es neben den Samt, setzte sich auf den Boden und zupfte ein wenig an beidem herum, bis es aussah wie eine Art Kleid mit rundem Ausschnitt, der mit Seide eingefaßt zu sein schien.
«Samt und Seide», sagte sie und sah zu Carl auf, «das paßt doch toll, nicht?»
Die Auswahl der Stoffe war perfekt, Material und Farben harmonierten auf wunderbare Weise. Carl nickte. «Schön, Isabelle. Ja. Sehr schön sogar.»
Brav brachte sie die Seide an ihren Platz zurück, rollte den Samt auf, und gemeinsam legten sie den Ballen zurück in das Regal. «Du bist ja eine geborene Modeschöpferin!» sagte er wie zum Spaß und strich ihr über das Haar.
«Modeschöpferin?»
«Interessierst du dich für Mode?»
Sie zuckte mit den Schultern. «Ich blättere gern in den Zeitschriften. Vivien und ich ... manchmal haben wir uns verkleidet ... Ich habe manchmal so Ideen, aber meine Mutter mag das nicht.»
«Soso.» Carl schloß die Luken und hängte die Kette ein. Isabelle zog ihren Mantel wieder an, und sie verließen den Lagerraum.
Mit Argwohn und Besorgnis beobachtete Ida die Entwicklung ihrer Tochter. Isabelle wuchs zu einer schönen jungen Frau heran. Sie war jetzt einen Kopf größer als ihre Mutter, birkenschlank, wie Gretel sagte, und trug ihre Haare noch immer kurz. Um die Augen und den Mund hatte sie etwas leicht Spöttisches bekommen, und in der Tat war ihre Schlagfertigkeit in der Schule und im Freundeskreis bekannt und gefürchtet. Isabelle ging keiner Konfrontation aus dem Weg. Im Gegenteil. Einem Wildpferd gleich galoppierte sie auf alles zu, was sich ihr in den Weg stellte. Sie schien die Auseinandersetzung nachgerade zu suchen, stritt häufig mit ihrer Mutter, gab Widerworte, setzte ihren Willen durch. Nicht einmal zum Konfirmandenunterricht – Ida war sehr daran gelegen, daß ihre Tochter konfirmiert wurde – konnte sie Isabelle überreden. Es gab einen Riesenkrach deswegen. Schließlich mußte Ida einsehen, daß sie langsam, aber sicher machtlos wurde.
«Das Mädchen ist wieder derartig kriebitzig», jammerte sie oft ihrer Freundin Gretel vor, wenn die beiden abends in der aufgeräumten Küche der Villa saßen und eine Partie Rommé spielten. «Ich weiß nicht, wie Isa beizukommen ist!»
«Mit Stubenarrest und Ohrfeigen jedenfalls nicht!» antwortete Gretel. «Du kannst erst hinlegen, wenn du zweiundvierzig Augen hast, Ida. Betupps mich doch bitte nicht!»
«Sie macht es mir so schwer.»
«Unsinn! Das geht doch allen Eltern so, das ist doch normal, sie wird erwachsen, da kannst du dich nicht gegen stemmen.»
«Ich hätte mir das früher nicht erlaubt.»
«Du bist aber auch so was von altmodisch und miesepetrig! Deine Isabelle ist eine eische Deern. Sei doch auch mal stolz auf sie. Sei doch auch mal zufrieden. Du mußt mit der Zeit gehen. Das müssen wir alle!»
Die Freundschaft zwischen Isabelle und Vivien war schon sehr bald nach dem Unfall beim Schlittschuhlaufen zu Ende gegangen, ohne erkennbaren Grund, so schien es –
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