Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
die Bohemiens. Woher nur kam diese andauernde Sehnsucht, diese immer wieder aufbrechende Traurigkeit, in der sie versank? Sie hätte heulen können. Doch Remo sprach zu ihr mit leiser Stimme, machte ihr Mut, brachte sie zum Lächeln, zum Lachen. Er sprach weiter und immer weiter, von fernen Zielen und Träumen, er lullte sie ein mit seinen Worten, bis sie müde war und, ihren Kopf zwischen die harte Holzlehne des Liegestuhls und Remos Hand gebettet, einschlief.
Als Isabelle wenige Tage darauf am frühen Abend auf einer Bank im Jardin des Tuileries saß und auf Christin wartete, erfüllte sich ihr Wunsch. Sie las in Balzacs Verlorenen Illusionen, die ihr Christin geschenkt hatte und die sie förmlich verschlang. Sie war so vertieft in die Geschichte von Lucien de Rubempré, dessen Aufstieg und Sturz im Paris des 19. Jahrhunderts, daß sie nicht bemerkte, wie ihre Freundin leise hinter sie trat. Der Überraschungsangriff gelang: Christin drückte ihren ausgestreckten Zeigefinger in Isabelles Taille und schrie dabei: «Es lebe die Revolution!»
Isabelle ließ vor Schreck das Buch in den roten Sand fallen. Christin umarmte sie von hinten, drückte ihr einen Schmatzer auf den Kopf und kam um die Bank herum, während sie ohne Punkt und Komma auf Isabelle einredete. Sie habe heute vormittag einen Interviewtermin im Salon von Yves Morny und dessen rechter Hand, Madame Fillettes, gehabt, die dringend eine Schneiderin suchten. Für morgen früh, zehn Uhr, sei nun für Isabelle ein Vorstellungstermin gemacht, reine Formsache, Madame Fillettes habe ihr beim Abschied zuversichtlich und vielversprechend zugeblinzelt. Christin wollte die Sache sofort in ihrer Stammbrasserie begießen, doch Isabelle lehnte ab. Wie oft hatte sie sich in den vergangenen Monaten zu früh gefreut. So gingen sie statt dessen ins Kino und sahen sich einen gerade angelaufenen deutschen Film an – Wim Wenders' «Im Lauf der Zeit» –, der Christin so langweilte, daß sie trotz des Protestes der anderen Zuschauer anfing zu rauchen, Isabelle aber zu Tränen rührte.
Am nächsten Morgen ging sie aufgeregt in den Salon von Yves Morny, der hinter der Place Vendôme lag und so atemberaubend protzig war, daß Isabelle das Gefühl hatte, ihr würde eine Audienz beim Sonnenkönig gewährt. Tatsächlich erschien aber nur Madame Fillettes, eine kleine, dicke, unermüdlich plappernde Dame. Sie trug ein Spitzenkleid im Stil der Jahrhundertwende und schien alles daranzusetzen, sich mit ihrer vierreihigen Perlenkette zu strangulieren. Im Gegensatz zu ihrem Chef, der seinen Haß auf die Deutschen geradezu kultivierte, liebte Madame Fillettes alles Deutsche. Sie war einst, so erzählte sie ohne Zurückhaltung, als wäre Isabelle längst eine alte Freundin, mit einem Herrn aus München liiert gewesen, offenbar die Liebe ihres Lebens, und sie beherrsche sogar ein wenig diese seltsame Sprache: «Du bist eine Kackwurst!»
Auf dem Weg zu den Ateliers, zu denen sie, Isabelle im Schlepptau, mit kleinen, silbrighellen Stöckelschritten eilte, gab sie noch mehr Kostproben dessen, was ihr Liebhaber ihr beigebracht hatte und wovon sie, das war Isabelle sofort klar, kaum etwas verstand: «Isch liebe disch. Abär leidär bis du doff!» Das blonde Mädchen aus «Ambour» gefiel Madame Fillettes. Atemlos im Atelier angekommen, reichte sie ihr die Hand und erklärte, sie sei engagiert.
Von nun an änderte sich Isabelles Leben. Sie mußte jeden Morgen um sechs aufstehen, um pünktlich um halb acht in den Werkstätten des Couturiers Yves Morny zu sein. Sie lagen in den alten Häuserzeilen der Rue de Rivoli, man konnte aus den Fenstern in die Tuilerien schauen. Unten befanden sich die vornehmen Passagen mit ihren Geschäften, den Cafés und Mittagsrestaurants, in denen vornehmlich reiche Touristen verkehrten. Die Ateliers lagen im fünften Stock, direkt unter den Dächern. Es waren langgestreckte, ineinander übergehende Räume, in denen zwei Dutzend Näherinnen saßen und von morgens bis abends einer eintönigen Arbeit nachgingen, die gleichwohl Handwerk, Geduld und höchste Genauigkeit verlangte. Sie alle, Isabelle eingeschlossen, taten nichts anderes, als Kleider, Kostümjacken, Röcke und Roben zu besticken.
Yves Morny war einer der Großen seines Fachs, so wie Christian Dior, Paul Poiret, Nina Ricci und Coco Chanel es gewesen waren und Karl Lagerfeld oder Yves Saint Laurent es heute noch sind. Er huldigte der Kunst des Einzigartigen, seine Modelle waren wenigen Begüterten
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