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Der Seerosenteich: Roman (German Edition)

Der Seerosenteich: Roman (German Edition)

Titel: Der Seerosenteich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Pfannenschmidt
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vorbehalten; kostbaren Juwelen gleich, machten sie aus jeder Frau, die sie trug, eine Königin.
    Doch in dieser Zeit war die Welt der Mode im Begriff, sich völlig zu verändern. Bis dahin hatte die Haute Couture sie bestimmt. Es gab Kleidung für jedermann, und es gab die Pariser Haute Couture – Einzelstücke, individuell entworfen und für die Kundin nach Maß angefertigt. Die schönsten Schnitte, die besten Stoffe, die Knöpfe handgedrechselt, jedes Teil zu neunzig Prozent von Hand genäht. Die Anfertigung solcher Modelle dauerte bis zu hundert Arbeitsstunden, und am Ende kosteten sie soviel wie ein Automobil.
    Seit Ende der sechziger Jahre sprach man auf einmal von der Demokratisierung der Mode. Die großen Modehäuser wandten sich mehr und mehr von der Haute Couture ab. Mit ihrer ganzen Kraft widmeten sie sich künftig der Prêt-à-porter-Mode, nach wie vor von Couturiers entworfen, doch nunmehr in Fabriken und in hohen Stückzahlen gefertigt, zu bezahlbaren Preisen und in allen Größen, «fertig zum Tragen», in Boutiquen verkauft. Die Elite produzierte Masse.
    Yves Morny jedoch wollte sich dieser Entwicklung nicht beugen. «Ich bin ein Künstler», hatte er in dem Interview mit Christin gesagt und seinen handtellergroßen Pinscher mit dem Samthalsband heftig gekrault, «ich bin wie Renoir, meine Roben sind wie Gemälde, Mademoiselle, glauben Sie mir, ihren Zauber finden Sie nur im Original, niemals in den Kopien. Niemals.»
    So kam es, daß Isabelle in den darauffolgenden Monaten jeden Tag, sogar samstags, die Treppen zu den Ateliers erklomm, sich an ihren Arbeitstisch setzte, von der Direktrice – sie mußte unwillkürlich an Alma denken und an Puppe Mandels Salon – das unfertige Kleid ausgehändigt bekam, als handelte es sich um die Kronjuwelen der englischen Königin, und nähte und nähte und nähte. Sie hatte nur diese einzige Aufgabe: auf alles, was sie in den Händen hielt, entlang der mit Schablonen vorgezeichneten Linien kleine weiße Perlen oder Pailletten aufzunähen. Es hätten auch rote, gelbe, grüne sein können, doch in dieser Saison hatte sich Yves Morny für die Farbe Weiß entschieden, dieser Winter sollte ein Winter der Unschuld sein.
    Nach dem Oktober kam der November, nach dem November der Dezember, danach begann das neue Jahr. Die Tage waren kurz, es wurde früh dunkel, und Isabelle mußte oft schon mittags ihre Tischlampe anknipsen, um im Schein des Lichts zu arbeiten. Kein Wort sprach man tagsüber untereinander. Von draußen drang der Pariser Straßenlärm herein. Unablässig gurrten die Tauben, die vor den Fenstern auf Dachvorsprüngen oder kupfernen Regenrinnen saßen. In der Ecke eines jeden Raumes stand ein bullernder Kachelofen, der trockene, brütende Hitze verströmte oder ausfiel, besonders an Frosttagen. Mittags gab es fünfzehn Minuten Pause; den Näherinnen blieb nicht einmal genug Zeit, das Haus zu verlassen. So saßen sie einfach stumm an ihren Tischen, aßen ein Stück Baguette und tranken aus mitgebrachten Thermoskannen Kaffee oder ein Glas Mineralwasser, vom Haus in karaffenähnlichen Flaschen auf einem nicht benutzten Zuschneidetisch bereitgestellt.
    Es war fast wie ein Leben aus einer anderen Epoche. Als Isabelle eines Abends müde nach Hause kam und Remo von der Eintönigkeit des Tages und ihren Beobachtungen erzählte, winkte er verständnislos ab. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Frauen heutzutage noch bereit waren, für einen Hungerlohn von ein paar Francs solche Arbeiten zu machen. Er fand, es sei ein unfaßbarer Widerspruch – hier die armen Näherinnen und dort die Roben, die mehr kosteten, als eine von ihnen im Jahr verdiente. Im Gegensatz zu Isabelle glaubte er auch nicht an ihre Aschenputtel-Geschichten: daß bestimmt jede der Arbeiterinnen, genau wie sie, den Traum vom Ruhm hege und dies nur ein Stück des Weges nach ganz oben sei, ein besonders steiniges.
    Isabelle ging ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Sie war blaß geworden, unter ihren Augen lagen Schatten. Frische Luft und Sonne sah sie nur noch an Sonntagen. Die Zeiten, als sie mit Christin in Straßencafés und Parks herumgehangen hatte, schienen vorbei zu sein. Seufzend drehte sie den Heißwasserhahn über der Badewanne auf. Es krachte und gurgelte in den Leitungen, dann sprudelte das Wasser. Isabelle goß Badeöl hinzu, zog sich aus, stieg in die Wanne und ließ sich vollkommen von der Wärme, dem Duft und der Ruhe umschließen. Nebenan legte Remo eine Schallplatte von

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