Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
einzigen – Streit und lösten ihn auf ihre Weise: Ihr Sohn wurde auf den Namen Philip Boy Rix getauft.
Das Geld, das Hanna Rix ihrem Sohn nach ihrem Selbstmord hinterlassen hatte, von einem Bankfilialleiter in all den Jahren geschickt angelegt, ermöglichte der Familie ein bescheidenes, doch sorgenfreies Leben. Um das Einkommen, das aus einmal jährlich ausgeschütteten Zinsen bestand, aufzubessern, fuhr Jon nebenher ab und zu Taxi oder übernahm gelegentlich in einem Krankenhaus die Nachtwache. Letzteres nützte ihm sehr für sein Studium, denn er konnte auf diese Weise praktische Erfahrungen sammeln und sich in den ruhigen Nachtstunden in seine Bücher vertiefen.
In einer dieser Nächte wurde er durch Klingeln an ein Krankenbett gerufen. Als er das Einzelzimmer betrat, blieb er überrascht in der Tür stehen. Ida Corthen, Isabelles Mutter, war es, die nach ihm gerufen hatte. Sie wußte im ersten Moment nicht, wer er war, aber als er an ihr Bett trat und sie ansprach, erkannte sie ihn. Gerührt nahm sie seine Hand und berichtete ihm, sie sei wegen einer Herzgeschichte hier, nichts Ernstes zwar, aber doch etwas, das die Ärzte zu beobachten wünschten. Sie könne nicht schlafen und brauchte eine Tablette. Jon ging in das Schwesternzimmer, holte ein Schlafmittel und ein Glas Wasser, kam zu Ida zurück und setzte sich, nachdem sie mit der Hand auf den Bettrand geklopft hatte, zu ihr.
Ida stellte das Medikament beiseite. Auf einmal war sie nicht mehr müde, sondern hellwach. Sie wollte alles über Jon wissen. Er erzählte es ihr. Dann sprach Ida über ihr Leben. Sie habe es gut getroffen bei den Trakenbergs, erklärte sie, Carl habe ihr hier im Krankenhaus das Einzelzimmer spendiert, damit sie sich in Ruhe von ihrer Erschöpfung auskurieren könne. Sie sprach von den Trakenbergs wie von ihrer eigenen Familie, plauderte darüber, wie gut die Geschäfte liefen, daß Carls Tochter Vivien sich verlobt habe und in München Jura studiere, wie gut es Gretel Burmönken gehe.
Nach und nach kam Ida auf alte Zeiten zu sprechen. Sie erinnerte sich an Luisendorf, an all die kleinen und großen Aufregungen jener Tage, und mit jedem Satz näherte sie sich, vorsichtig und zögernd, dem Thema, das ihr und Jon am meisten am Herzen lag. Die Nacht war schon fast vorüber, das Licht der Nachttischleuchte wurde blasser, während sich draußen die Schwärze auflöste, und endlich kam sie auf Isabelle zu sprechen. Kaum etwas höre sie noch von ihrer Tochter! Es sei ganz gewiß ein Fehler gewesen, damals wegzugehen, aber auf die Mutter höre ein Kind ja selten, und jeder müsse seine eigenen Fehler und Erfahrungen machen. Bitterkeit schwang in ihren Worten mit. Jon stellte ihr viele Fragen und erfuhr dabei, daß es Isabelle offenbar nicht gutging. Zwar wußte Ida nichts Genaues, aber Mütter hatten Antennen, wenn es um die Sorgen ihrer Kinder ging, und sie spürte, auch ohne daß Isabelle es ihr ausdrücklich schrieb, daß etwas nicht stimmte.
Schließlich ging die Nacht zu Ende. Die Vögel fingen an zu zwitschern. Hinter den Kronen der Bäume im Krankenhauspark stieg langsam die Sonne herauf. Die Pappeln, Buchen und Eichen bekamen Konturen, wie von Hand gefertigte Schattenrisse. Sonnenstrahlen blitzten zwischen den Zweigen auf, der Wind ließ sie blinken, als gäben sie Morsezeichen: Der Tag ist da, der Tag ist da. Morgenrot ergoß sich über die Blätter, tauchte sie in tausend Töne, eine Symphonie von Farben. Schließlich war es hell. Es versprach, ein schöner Tag zu werden.
Ida fielen vor Müdigkeit fast die Augen zu. Jon verabschiedete sich und versicherte ihr, daß er bald wieder vorbeikommen würde. Sie freute sich darauf. Sie mochte ihn. Er gehörte zum Guten in Ida Corthens Vergangenheit.
Als Jon erschöpft nach Hause kam, fand er noch eben die Kraft, mit seiner Frau ein paar Worte zu wechseln und kurz mit seinem Kind zu spielen. Dann schlief er auf dem Sofa im Wohnzimmer ein. Hellen deckte ihn mit einer Wolldecke zu, nahm Philip auf den Arm und verließ leise den Raum.
Sechs Stunden schlief Jon. Er träumte von Isabelle. Es war ein schrecklicher Traum, ein Alptraum, und er wachte schweißgebadet auf. Nachdem er sich geduscht, rasiert und angezogen hatte, setzte er sich zu Hellen in die Küche und erzählte ihr von seiner überraschenden Begegnung mit Ida Corthen. Seine Frau kannte die ganze Geschichte mit Isabelle. Sie war nicht der Typ, der auf Vergangenes eifersüchtig war, und sie tat gut daran, gelassen und
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