Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Ile St-Louis ging, blieb sie stehen und sah hinunter auf die Seine. Sie hatte den Fluß nie gemocht. Daß er in Chansons besungen wurde, fand Isabelle lächerlich und kitschig. Dieser Strom, der sich da durch Paris quälte, war weder so lebendig noch so vielseitig wie die Elbe, ja, nicht einmal schön. Die Seine war trübe, dunkel, dreckig – ein Totenfluß wie der Ganges. Isabelle hielt sich am Geländer fest. Ihr war schwindelig. Sie mußte jetzt nur über die Brüstung klettern und springen – dann wäre alles vorbei. Einen Augenblick lang dachte sie darüber nach. Wer würde über sie weinen, wer würde sie vermissen? Ihre Mutter vielleicht. Sonst niemand. Es war ein schrecklicher Gedanke, sie wischte ihn fort, wie die Regentropfen, die über ihr Gesicht liefen. Ein Peugeotfahrer, der mit eingeschalteten Scheinwerfern die nasse Brücke überquerte, verlangsamte die Fahrt und hupte heftig. Er riß Isabelle aus ihren Gedanken, sie sah zu ihm hinüber. Er winkte und forderte sie zum Einsteigen auf. Ärgerlich drehte sie sich weg und ging weiter. Der Mann setzte seine Fahrt in die andere Richtung fort.
Sie bog nach links in die Straße ein, in der sie wohnte. Kein Mensch war draußen, das Wetter war zu schlecht. Vergeblich schienen die Straßenlaternen in dieser trüben Suppe Licht verströmen zu wollen; sie sahen aus wie die Positionslampen von Kähnen auf hoher See. Selbst die Häuser wirkten dunkel. Ihre Fassaden kamen Isabelle vor wie abweisende, finstere Gestalten, die sie mit bösen Mienen des Weges verweisen wollten.
Sie fing an zu laufen. In ihrer Phantasie hatten die Häuser Arme und Hände, die nach ihr greifen wollten. Atemlos und naß bis auf die Haut erreichte sie endlich ihr Zuhause und lehnte sich gegen die Eingangstür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie mußte husten. In der Tasche des langen Jeansmantels, den ihr Christin vergangenes Jahr geschenkt hatte, suchte sie nach einem Taschentuch.
Doch sie fand keines. Isabelle ging hinein, am Ende ihrer Kräfte. Sie machte nicht einmal Licht. Im Hausflur roch es nach geschmortem Kaninchen. Ein Kind heulte. Irgendwo lief ein Radiogerät. Langsam, Stufe für Stufe, ging Isabelle nach oben. Ihre Bronchien schmerzten. Verdammt, warum tat das so weh? Sie faßte sich an die Brust, atmete tief durch. Ruhig, Mädchen, dachte sie, ruhig. Gleich bist du in deiner Wohnung, gleich kannst du dir einen Tee kochen, dich auf dein Sofa legen, dich ausruhen ...
Eine Stimme aus dem Dunkeln, eine warme, schöne, vertraute Stimme, eine Stimme aus den glücklichen Tagen, an die sie sich kaum noch erinnern konnte, drang an ihr Ohr, wie Honig, wie Milch und Honig, wie Sonne, wie Angekommensein, wie Liebe:
«Na, kommen wir immer so spät nach Hause?»
Sie sah auf und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnungstür saß, vom spärlichen Schein aus dem Lichtschacht beleuchtet –Jon. Groß, stark, fremd, nah. Er erhob sich und reichte ihr die Hand, um sie die letzten Schritte zu sich hinaufzuziehen. Noch während er ihre Hand hielt, drehte er sich um und schaltete die Treppenbeleuchtung an. Sie spürte, daß er sie zur Begrüßung umarmen wollte, nun aber, da er sie sah, erschrocken innehielt. Sie war bleich, mit tiefen Schatten unter den Augen, die Haare fielen in nassen Strähnen herunter, sie wirkte älter, als sie war, ihre Kleidung sah vernachlässigt aus. Man sah ihr das Unglück an, das an ihr klebte, wie Leim, sie sah fürchterlich aus, und sie wußte es.
«Isabelle!» brachte Jon schließlich heraus.
Beide sprachen einen langen Moment gar nichts, sahen einander nur an, als würden sie sich gegenseitig Millimeter für Millimeter wie mit einem Tonband oder einer Filmkamera aufnehmen, als müßten sie sich alles einprägen für später einmal. In Wahrheit wußten sie nur nicht, was sie sagen sollten. Unter Isabelles Füßen bildete sich eine Regenpfütze. «Was machst du denn hier?» fragte sie.
«Ich wo ... wo ... wollte dich ... Ich wollte dich besuchen.»
«Mich besuchen?»
«Du bist ja ganz naß!»
«Wie bist du denn hierhergekommen?»
«Mit meinem Käfer. Steht draußen.»
«Ein Käfer?»
Er nickte. «Steht direkt vor der Tür. Ich bin schon vor zwei Stunden angekommen.»
«Ich habe gar keinen gesehen. Vor zwei Stunden?»
Die Tür des gegenüberliegenden Appartements öffnete sich, und eine junge Frau im Afro-Look trat heraus. Ihr folgte ein Mann Mitte Zwanzig, der mit seinen Stiefeletten, einem engen, weißen
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