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Der Seerosenteich: Roman (German Edition)

Der Seerosenteich: Roman (German Edition)

Titel: Der Seerosenteich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Pfannenschmidt
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interessiert zuzuhören. Denn in Jons Wesen gab es eine seltsame Mischung von Sturheit und Treue. Er konnte nicht vergessen, was Isabelle ihm angetan hatte. Aber er fühlte sich ihr auch nach wie vor verbunden. In seinem Kopf reifte, noch während er Hellen gegenübersaß, eine Tasse Tee trank und redete, eine Idee, die sich am darauffolgenden Tag noch verstärken und zu einem konkreten Plan wandeln sollte.
    Den ganzen nächsten Tag verbrachte er in der Universität. Abends hetzte er ins Krankenhaus, weil er wieder Nachtdienst hatte. Sein erster Gang – nachdem er sich kurz bei der Stationsschwester gemeldet und seine Jacke in den Schrank im Schwesternzimmer gehängt hatte – führte ihn zu Ida Corthen. Sie hatte Besuch. Es war Gretel Burmönken, die ihr, weil man den «Krankenhausfraß» ja nicht essen könne, etwas Selbstgekochtes gebracht hatte und gerade gehen wollte. Es gab ein großes Hallo, als sie Jon sah; sie drückte ihn, gab ihm einen Kuß und hörte nicht auf, sich darüber zu begeistern, was für ein fabelhaft aussehender Mann er geworden sei und wie sehr sie sich freue, ihn wiederzusehen und zu erfahren, daß er auf dem Wege sei, Arzt zu werden.
    Während Ida alt geworden war, schien sich Gretel überhaupt nicht verändert zu haben. Vielleicht lag es daran, daß Menschen mit fröhlichem Naturell uns durch ihre glückliche Ausstrahlung ihr Aussehen vergessen lassen, während bei Melancholikern jeder Kummer, den sie empfinden, Spuren im Gesicht hinterläßt.
    Jon begleitete Gretel hinaus. Während sie den langen Krankenhausflur entlanggingen, nutzte Gretel die Gelegenheit, über Isabelle zu sprechen. Sie machte sich große Sorgen, genau wie Ida. Doch während Isabelles Mutter gewisse Dinge verdrängte, brachte Gretel sie schonungslos zum Ausdruck. Jemand müsse Isabelle ins Gewissen reden, jemand, dem sie vertraue. Das Kind – sie lächelte, Kind! – habe sich seit Wochen nicht mehr gemeldet und offenbar jeden Halt verloren, wobei ihr verdammter Stolz sie daran hindere, das gegenüber den Menschen, die sie liebte, einzugestehen. Die Botschaft war klar, und sie stieß bei Jon auf fruchtbaren Boden.
    Als Gretel und er draußen vor dem Krankenhausgebäude standen, öffnete sie ihre Handtasche, nahm ihr Notizbuch und einen Bleistift in die Hand, kritzelte auf ein Blättchen Papier Isabelles Adresse in Paris, riß es heraus und gab es Jon.
    Einige Tage lang schleppte Jon den Gedanken mit sich herum. Einerseits sehnte er sich danach, Isabelle wiederzusehen. Es drängte ihn, ihr zu helfen. Das Versprechen von damals kam ihm wieder in den Sinn, in seinem Brief, in dem die getrocknete Seerose lag: Ich werde immer für Dich dasein. Andererseits war es aus vielen Gründen eine verrückte Idee, nach Paris zu fahren. Weder finanziell noch zeitlich konnte er sich eine solche Reise leisten. Er hatte eine Frau, die ihn brauchte, und ein Kind. Er mußte studieren. Es gab eine Fülle zusätzlicher Verpflichtungen. Und außerdem: Was sollte er nach all der Zeit sagen, wenn er Isabelle gegenüberstehen würde? Hatte er überhaupt ein Recht, sich in ihr Leben einzumischen? Er entschied sich dagegen, nach Paris zu fahren. Den Zettel mit Isabelles Adresse zerknüllte er und warf ihn weg.
    Am Freitag der folgenden Woche sollte Ida Corthen entlassen werden. Jon hatte erfahren, daß, abgesehen von einer Herzschwäche, nichts Schwerwiegendes festgestellt worden war. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag mußte er wieder zum Dienst im Krankenhaus und hatte vor, sich dann von Ida zu verabschieden. Am Donnerstag morgen, es regnete in Strömen und man hatte das Gefühl, der schöne Herbst sei schon wieder vorbei, sprach ihn Hellen unvermittelt an. Warum er eigentlich nicht am übernächsten Wochenende, wenn sie mit Philip zu ihren Eltern nach Dangast fahren würde, die Gelegenheit nutze, um nach Paris zu reisen? Paris sei eine schöne Stadt, und alten Freunden müsse man helfen. Jon war perplex.
    Er wußte damals noch nicht, was für eine lebenskluge Frau Hellen war – sie verstand es auf wunderbare Weise, sich in die Gefühle anderer Menschen hineinzuversetzen, besonders derer, die sie liebte. Auf diese Weise war sie ihrem Gegenüber immer einen Schritt voraus. Sie vertrat im stillen die Meinung, das Geheimnis einer langen Ehe beruhe darauf, daß man sich niemals trenne. Dies wiederum war ihrer Ansicht nach nur möglich, wenn nicht nur Liebe und Respekt die Säulen einer Partnerschaft waren, sondern auch Freiheit. Die Schatten

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