Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
gluckste, lästerte und plapperte Oberflächliches und Tiefsinniges, Heiteres und Ernstes. Zwischendurch befahl sie ihrem Schützling, das Bett zu verlassen und «ein paar Schritte für den Kreislauf» zu tun, während sie ihr Bettlaken glattstrich, das Kissen aufschüttelte und dann, nachdem sich Isabelle wieder hingelegt hatte, liebevoll die Steppdecke über sie legte und ihr mit einer warmen Wolldecke «eine Tüte baute». Das war Kindheit für Isabelle, das war das Schöne an der Krankheit: umsorgt zu sein, sich fallenlassen zu dürfen, faul herumzuliegen und trotzdem noch jeden Wunsch von den Augen abgelesen zu bekommen. Es erinnerte sie daran, wie sie früher, wenn sie mit Schnupfen, Husten und Fieber daniederlag, von ihrer Mutter ein kleines Radiogerät auf den Nachttisch gestellt bekam und vormittags den Schulfunk hören durfte. Es war wie süße Medizin. Englisch, Geschichte und Heimatkunde wurden ihr nahegebracht, auf unterhaltsame Weise lernte sie. Am schönsten von allem waren dabei die kleinen Hörspiele, die «Neues aus Waldhagen» brachten, mit Bauer Piepenbrink und den Seinen. Das war wie Luisendorf, das war wie das richtige Leben, nur daß es nicht weh tat.
Dann kam Jon vorbei. Er brachte Weintrauben mit, die sie gemeinsam aßen, und Fotos von seinem Sohn. Philip war mittlerweile vier Jahre alt, ein hübsches Kind, das mit seinen wachen grünen Augen und dem dunklen Haar sehr nach seinem Vater kam. Jon, der vor Stolz fast zu platzen schien über das Glück in seinem Leben – seinen Sohn, seine Frau, seinen Weg zum Arztberuf –, wollte Isabelle unbedingt zeigen, was er bisher gelernt hatte. Er schaute ihr prüfend in die Augen, befühlte Stirn und Hals, umfaßte ihr Handgelenk, um den Puls festzustellen. Während er dies tat und sie sich dabei unterhielten, spürte Isabelle, daß sie mehr für Jon empfand als Freundschaft. Sein Wesen, sein Aussehen, die Art, wie er sprach und sich bewegte, wie er lachte und wie er sich anfühlte, wenn sie wiederum seine Hand nahm oder ihm über das Gesicht und das Haar strich: das war so vertraut, so liebenswert, so berührend, daß sie ihn mehr begehrte als je zuvor. Es war schmerzlich, zu wissen, daß sie das Glück ihres Lebens verspielt hatte. Es tat Isabelle weh, daß er vergeben war und damit unerreichbar für sie. Jon spürte, daß sie litt, und nachdem er sie einmal am Krankenbett besucht hatte, zog er sich zurück: er müsse sich auf sein Studium konzentrieren.
Eines Abends – es ging Isabelle wieder besser, sie hatte ein wenig zugenommen – saß sie mit ihrer Mutter zusammen im Wohnzimmer. Sie hatte gebadet und ihre Haare, die inzwischen wieder so lang waren, daß sie fast bis auf die Schultern fielen, mit zwei Klammern seitlich hochgesteckt. Sie kuschelte sich in einen flauschigen Bademantel von Ida, schnappte sich eine Wolldecke, die sie sich über die Beine legte, und setzte sich in den Ohrensessel ihres Großvaters. Der Sessel, den ihre Mutter letztes Jahr mit Rosenstoff, «von Herrn Trakenberg spendiert», neu hatte beziehen lassen, stand am schönsten Platz der Wohnung – am einzigen Fenster, das nach hinten hinausging und einen weiten Blick über den Garten bot. Ida brachte ihrer Tochter einen Becher mit heißer Schokolade, setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa und redete ein ernstes Wort mit ihr.
Isabelle hatte den Vorwürfen ihrer Mutter wenig entgegenzusetzen. Es stimmte, daß sie leichtfertig und ohne Rücksicht auf andere, einer Leidenschaft wegen, nach Paris gegangen war. Es stimmte, daß sie alle Warnungen bezüglich dieses Mannes – selbst die diskreten Hinweise seiner Tante Alma Winter, die ihn schließlich am besten kannte – in den Wind geschlagen hatte. Es stimmte, daß er sie verlassen hatte und sie nun, kläglich gescheitert, in den Schoß ihrer Familie zurückgekehrt war. Ja, sie war dumm gewesen, dumm und egoistisch. Und was die Zukunft anging, die lag im Trüben. Was sollte sie noch viel darauf antworten. Während sie ihren Blick in dem Kakaobecher versenkte und immer mehr das Gefühl hatte, sie befände sich vor einem Tribunal, sagte ihre Mutter die Worte, die Isabelle am tiefsten trafen: «Ich wäre gerne stolz auf dich gewesen. Ich habe mir immer gewünscht, daß ich, nun ... wenn ich eines fernen Tages deinem Vater wiederbegegne, daß ich ihm sagen kann: Ich hab's auch ohne dich geschafft, Hermann. Es ist mir gelungen. Ich habe alles dafür getan, daß aus unserer Tochter was geworden ist. Ich habe nicht versagt. Tja.
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