Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
«La Jeunesse, la jeunesse» war das letzte, was Isabelle sie zirpen hörte, während sie wieder nach oben in ihr Appartement ging.
Am Nachmittag kehrte Jon zurück. Er sprudelte förmlich über von all den Eindrücken, die er mitbrachte, und nahm sich vor, noch einmal in Ruhe wiederzukommen. Isabelle hatte mittlerweile alles, was für ihre Abreise vonnöten war, erledigt. Zunächst überlegten die beiden, ob sie die lange Strecke tatsächlich noch an diesem Sonntag zurücklegen sollten, und Isabelle überkamen für einen Moment Bedenken, ob ihre Abreise nicht etwas überstürzt sei, aber dann entschied sie sich schließlich doch dazu, den in der vergangenen Nacht besprochenen Plan in die Tat umzusetzen. Sie schleppten das Gepäck hinunter. Es ließ sich kaum in dem Käfer verstauen. Isabelle war erstaunt darüber, wieviel sie noch besaß – obwohl sie doch sicher war, arm wie eine Kirchenmaus zu sein. Ein paar Dinge, das Sofa und das Bett vor allem und Gegenstände in der Küche, ließen sie zurück. Isabelle hatte Madame zuvor um Erlaubnis gefragt, und die alte Dame, die schon Remo gegenüber so großzügig gewesen war, hoffte nun auf einen milden Ausgleich und erlaubte ihrer Mieterin, die Sachen dort zu lassen.
Dann machten sie sich auf den Weg. Sie hielten kurz an einer Telefonzelle, um Isabelles Mutter anzurufen und ihr mitzuteilen, daß sie nach Hause käme. Ida war kurz angebunden, doch das überraschte Isabelle nicht. Sie führte es auf die Überrumpelung zurück und darauf, daß Ida es nicht gewöhnt war, Ferngespräche zu führen.
Während sie danach die Stadt durchquerten, die Peripherie erreichten und schließlich die Autobahn, war Isabelle sehr schweigsam. Sie blickte aus dem Fenster. Das war also der Abschied. Sang- und klanglos. Obwohl man sich doch eigentlich niemals umdrehen sollte, tat Isabelle es doch. Hinter ihr, im kleinen, ovalen Ausschnitt des Volkswagenfensters, funkelte fern das nächtliche Paris. Isabelle schneuzte sich.
«Aber jetzt heulst du doch nicht?» fragte Jon laut, denn der Motor machte einen Höllenkrach.
«Mein Schnupfen ist schlimmer geworden!» erwiderte Isabelle.
Und während die Stadt kleiner und kleiner wurde, schrumpfte auch der Groll gegen sie, und die Traurigkeit in Isabelles Herz verwandelte sich in Vorfreude und Hoffnung. Allmählich wurde sie mutig, wie ein kleiner junge, der eben jemandem davongelaufen ist, der ihn vermöbeln wollte, und insgeheim schmiedete sie bereits einen Plan: «Ich komme wieder, Paris, und dann werd ich's dir zeigen!»
Kapitel 16
Da draußen», hatte Christin Laroche einmal zu Isabelle gesagt und dabei auf den Platz vor dem Bistro gezeigt, «da draußen muß jeder von uns allein durch. Wer das nicht begreift, hat verloren.» Es war einer der wenigen bitterernsten Momente gewesen, die sie mit Christin verbracht hatte. Aber der Wein war so weich, das Kerzenlicht brannte so ruhig und in der Ecke des Bistros spielte eine Frau mit rostroten Haaren so schön das Akkordeon, daß Isabelle nicht richtig begriff, was ihre Freundin meinte, und schnell vergaß, was sie gesagt hatte.
Da draußen: Das sind die anderen, das ist der Kampf und, mit Kraft und Glück, der Sieg. Isabelle hatte nicht gewonnen. Sie hatte in Paris alles verloren. Doch ihr Leben war ihr geblieben, und mit ihm ihr Mut, ihr Wille und die Erkenntnis, daß man harte Zeiten überstehen kann und muß. Isabelle spürte, während sie neben Jon saß, der stur das Lenkrad festhielt und die Straße im Auge behielt, daß nun bessere Zeiten beginnen würden. Und sie wußte: Wenn sie mit ihm zusammen war, befand sie sich im Freundesland. Er war die Quelle, aus der sie Kraft tanken und sich an Geborgenheit laben konnte. Er war ihr Glück. Sie hatte es mit Füßen getreten, und trotzdem war er zu ihr gekommen und hatte sie erlöst. Isabelle sagte ihm, was sie dachte und empfand. Er winkte ab. «Wir wollen nicht mehr darüber reden, okay?»
Mehr als zwölf Stunden fuhren sie: über Autobahnen, die in kaltem Gelb erleuchtet waren, über düstere belgische Landstraßen, passierten Grenzen; an einer Raststätte in der Nähe von Aachen machten sie im Morgengrauen halt und schliefen zwei Stunden im Auto, am späten Montagvormittag kamen sie schließlich in Hamburg an. Isabelle hatte Fieber, doch sie ließ sich nichts anmerken. Jon war völlig erschlagen, alle Knochen taten ihm weh, doch er zeigte es nicht.
Endlich hielten sie vor dem Trakenbergschen Anwesen. Die Hecke war noch höher gewachsen
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