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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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Ägypten tot geblieben, einbalsamiert und ins Grab gelegt worden? Begreife ich aufgrund meiner eigenen etwas von Atums Metamorphose? Natürlich sind der Wille eines Gottes und die Wirkungslosigkeit eines menschlichen Vorsatzes, sich seinem Schicksal zu widersetzen, nicht vergleichbar! Sein Blick wanderte zurück auf die Hieroglyphen.
    Ich, Thot, der die Reinigung geschaffen hat, spreche nun von der Geburt des Heka, wie Atum mir befohlen hat.
    Ich wurde, der Werdende wurde, ich bin im Werden geworden …
    Ich habe alles erreicht, was ich wollte, in der nichtseienden Welt,
    ich habe mich ausgeweitet in ihr,
    ich habe meine Hand geschlossen, ganz allein, ehe irgendeine Geburt war.
    Mein eigener Mund kam zu mir, und mein Name war Heka.
    Huy streckte seine steifen Arme aus, um sich abzustützen. Seine Handflächen berührten das Gras und ein weiches Blatt des Isched-Baums. Seine Finger umfassten und zermalmten es, ohne dass er den Duft bemerkte, der ihm entströmte. Das weiß ich. Ich verstehe: Die nichtseiende Welt des Nun und Atum, der in die Erste Duat eintritt, sich in ihr ausweitet, bis sie nicht mehr die Nichtseiende ist, sondern von ihm erfüllt ist. Und dann masturbiert er und steckt sich den eigenen Samen in den Mund. Das kann er tun, weil er kraft seines Willens nicht mehr außerhalb sondern innerhalb des Nun ist, ihn erfüllt und sich damit verwandelt hat. Sobald sein Samen seine Zunge berührt, wird die Heka-Kraft gezeugt. Er ist der Hügel, der den Nun erfüllt. Jetzt ist er auch Heka. Er arbeitet, arbeitet in sich, im Nun, und Heka wird jetzt gezeugt. Huys Herz raste. Ehrfurcht überwältigte ihn. »Ich höre zu und verstehe, Anubis«, flüsterte er, und es erschien ihm, als würde das Rascheln der Blätter zu einer Art Tusch. Jetzt merkte er auch, dass er ein Blatt zerfetzt hatte, ließ es los und wischte seine Hand am Schurz ab. Das hinterließ einen grünen Fleck auf dem weißen Leinen, von dem Blumenduft aufstieg. Ich bin Teil des Heka, dachte er plötzlich. Nein – ich bin in ihm, er ist überall um mich herum, im Baum, im Buch. Ich sitze im Auge des Zaubersturms und bin nicht in Gefahr. Ich habe das Gefühl, dass meine Amulette hier nichts nützen. Sie sind bloß Schmuckstücke. Trotzdem bin ich geschützt. Er las weiter.
    Ich, Thot, der aus Atum hervorgekommen ist, spreche nun von der Vollendung des Heka.
    Lasst uns Geist als reine Energie bezeichnen – aber wir kennen sie nur als Licht.
    Lasst uns Atum als Bewusstsein bezeichnen – aber wir kennen ihn nur durch Vervollkommnung.
    Lasst uns Licht als das Erste bezeichnen – aber wir kennen es nur durch die Dunkelheit.
    Lasst uns die Urspaltung als das Erste Werden bezeichnen – aber wir kennen sie nur durch das Getrenntsein.
    Unzählig sind die Metamorphosen durch meinen Mund, ehe der Himmel geworden ist.
    Ich, Thot, der alle Dinge in Betracht zieht, spreche nun von dem Ende vor dem Anfang.
    Alles, was geschaffen wird, kehrt wieder zurück in den Nun.
    Allein ich selbst bestehe fort, unerkannt, allen unsichtbar …
    Überwältigt rollte Huy den Papyrus zusammen. Sein Kopf fühlte sich an, als müsse er platzen. Seine Euphorie war verflogen, als er den Abschnitt über die Vollendung des Heka las. Jede der knappen Aussagen war in einfache Worte gefasst und enthielt dennoch ein ganzes Reich komplexer Rätsel, sodass er jede einzelne sorgfältig ausloten und darauf hoffen musste, noch mehr Eingebungen wie am Nachmittag auf dem Sportplatz zu haben. Trotz seiner Verwirrung verspürte er Gelassenheit, als er steifbeinig zur Tür ging und klopfte. Es wird mir alles klarwerden, dachte er, während er auf Ramose wartete. Ich muss mich nur so gut wie möglich freimachen von den Ängsten und die Götter was und wann sie wollen zu mir sprechen lassen. Ich werde mir keine Sorgen mehr darüber machen.
    In den folgenden Wochen las er die beiden Abschnitte wieder und wieder, begnügte sich damit, die Worte, die so mächtige Begriffe bildeten, tief unterhalb seines wachen Bewusstseins einsinken zu lassen. Er konnte sie sich jederzeit mühelos wieder ins Gedächtnis rufen, und viele Nächte verbrachte er schlaflos damit, über die Bedeutung jeder einzelnen feierlichen Aussage nachzudenken.
    Als er das Gefühl hatte, weiterlesen zu können, öffnete er die zweite Rolle und entdeckte zu seiner Freude eine Abhandlung zu den Rätseln der ersten Rolle. Die Sprache war anders – einfacher –, und die langen Verse waren Huys Meinung nach von einer anderen Hand

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