Der Seher des Pharao
niedergeschrieben worden. Dieser Text wirkte nicht so majestätisch und gebieterisch, aber Huys Überzeugung, dass er nicht von Thot stammte, resultierte aus der Tatsache, dass er diese Worte nicht sofort auswendig konnte. Bei ihnen erinnerte er sich nur an Bruchstücke.
Leih mir deine volle Aufmerksamkeit, und konzentriere deine Gedanken, denn das Erkennen des Seins von Atum verlangt tiefes Verständnis, das nur aus dem Geschenk der Gnade erwächst … Sich Atum vorzustellen, ist schwierig. Ihn zu erklären, ist unmöglich …
Re-Atum ist Licht, die ewige Quelle der Energie, der immerwährende Spender des Lebens selbst.
Der Ursprüngliche Verstand, der Leben und Licht ist, gebar als Zwitter den Verstand des Universums … Zuerst und vor dem Anfang ist Atum …
Vor langer Zeit hatte ein großer Seher das Buch gelesen und in seiner Weisheit versucht, das zu verdeutlichen, was nahezu unvorstellbar war. Huy war äußerst dankbar dafür und überlegte, ob das vielleicht Imhotep selbst gewesen war.
Je mehr Wochen vergingen, desto weniger erschienen Huy auch die Stunden, die er mit einer Papyrusrolle auf den Knien unter dem Isched-Baum saß, als etwas völlig anderes als der profane Rest des Tages, sondern sie verschmolzen damit. Irgendwann nahm er zudem zur Kenntnis, dass kein Vogel, der über den offenen Innenhof flog, sich je auf dem Isched-Baum niederließ, und das Laub nie seine Farbe veränderte.
Diesmal kehrte er während der Nilschwemme nicht nach Hut-Herib zurück. Ramose wollte nicht, dass er die Arbeit an dem Buch unterbrach oder die Familienmitglieder und Müßiggang seine Konzentration vielleicht zunichte machten. Huy hatte nichts dagegen. Schließlich bezahlte der Tempel seine Ausbildung, also wollte er so entgegenkommend wie möglich sein. Doch der wahre Grund war weniger altruistisch. In Iunu zu bleiben, bedeutete, in der Nähe von Anuket zu sein. Seine Leidenschaft hatte nicht abgenommen. Im Gegenteil, sie wuchs, weil er während der Ferien häufiger in Thutmosis’ Elternhaus zu Gast sein konnte. Nacht und vor allem seiner Frau tat der junge Mann leid, der allein durch die leeren Höfe wandern musste, und sie luden ihn regelmäßig ein, in dem Zimmer zu schlafen, das er immer mehr als sein eigenes betrachtete. Der Oberpriester schien diese Besuche nicht als ablenkend zu betrachten. »Sie sind Teil deines Lebens in Iunu geworden, während dir Hut-Herib zunehmend fremd wird, Huy«, hatte er gesagt. »Sie bringen dir gerade das richtige Maß an Abwechslung, um dich für deine große Aufgabe frisch zu machen. Geh mit meinem Segen, wann immer der Fürst nach dir schickt.«
Huy war sich da nicht so sicher. Anuket jeden Tag zu sehen, sie zu beobachten, wenn sie aß oder durch den riesigen Garten ging, um Blumen für ihre Kränze und Girlanden auszuwählen, ihr nahezu in Ekstase gegenüberzusitzen, wenn sie an den langen Abenden Hund und Schakal oder Senet spielten und die zahllosen Lampen in Nachts Salon auf ihrem Schmuck und ihrem schwarzen Haar glänzten, all das waren wunderbare Qualen. Sein Körper begehrte sie mit aller Macht. Im Geiste liebte er sie viele Male, selbst dann, wenn sie mit ihm plauderte oder er ihr gelegentlich im Kräuterzimmer half und die Blätter von den Stielen entfernte, die sie in ihre einzigartigen Gebilde flechten wollte. Der Geruch der verschiedenen Kräuter, die unter der Decke trockneten, verband sich untrennbar mit seinem Verlangen nach ihr. Schließlich brachte sogar der Geruch von Thymian oder Sellerie in seinem Essen ihm ihr Bild lebhaft vor Augen, und es gab keine wilde oder kultivierte Blume, die nicht unsichtbar den Abdruck ihrer zierlichen, flinken Finger barg.
Nascha und Thutmosis waren überglücklich, Huy bei sich zu haben: Thutmosis, weil Huy seit nunmehr fast neun Jahren sein bester Freund war, und Nascha, weil Huy einen Kontrast zu den ernsten jungen Männern bildete, die jetzt auf Einladung von Nacht reihenweise ihre Aufwartung machten, um sich um ihre Hand zu bewerben. Sie langweilten sie ausnahmslos, und nach den Besuchen lieferte sie sich regelmäßig Redeschlachten und Raufereien mit Huy. Der wusste, dass sie ihn dabei immer wie einen Adoptivbruder betrachtete. Sie, Huy und Thutmosis verbrachten viele Stunden auf den ruhigen Wassern der Flut, trieben ziellos herum, rupften Schilf und später Laichkraut aus, das mit seiner schieren Masse die Kanäle verstopfen konnte, und bewarfen sich damit, hielten Ausschau nach Silberreiher-und Ibisnestern oder lagen
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