Der Seher des Pharao
Wände waren nicht bemalt. Huy mochte die Atmosphäre ruhiger Schlichtheit sofort.
»Der vorherige Bewohner hat seinen dreimonatigen Dienst hier beendet und ist wieder zu Hause«, erklärte Mentuhotep. »Da für ihn kein neuer Priester kommt, kannst du diese Kammer haben. Wenn du deinen Schutzgott mitgebracht hast, kannst du ihn neben Thot stellen. Er hat nichts dagegen. Ich lasse dir Bettzeug und einen Strohsack für deinen Wächter bringen. Du kannst überall hingehen, wo du willst, außer ins Allerheiligste natürlich. Der innere Hof ist dir nicht verboten. Es scheint, dass Thot dir sehr gewogen ist.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Der zweite Teil des Heiligen Buches umfasst, wie du sicher weißt, nur eine Rolle. Du wirst sie in meinem Arbeitszimmer lesen, und ich stehe dir jederzeit für Erörterungen zur Verfügung. Ich habe das ganze Buch gelesen und viele Jahre lang über seine Bedeutung nachgedacht. Vielleicht kann ich dir ein bisschen behilflich sein.« Die Bescheidenheit des Mannes war überwältigend, und Huy fühlte sich einfältig und wie ein Hochstapler.
»Ich werde deine Hilfe benötigen, Meister«, platzte er heraus. »Mir scheint, die Götter haben eine schlechte Wahl getroffen, wenn sie ein kluges Instrument zur Umsetzung ihres Willens haben wollten. Ich bin doch bloß ein Bauer aus Hut-Herib.«
»Oh, du bist viel mehr als das, Huy«, murmelte Mentuhotep. »Ich kenne die Last, die dich bedrückt. Du hast mit Ramose, Methen und der Rechet gute Mentoren. Und ich bin da, wenn du einen Freund brauchst.« Er verbeugte sich erstmals vor Huy und verließ die Kammer. Diesmal schien der heilige Pavian, der an seinem Ohr baumelte, zu lächeln.
Der Wächter, der in der Nähe geblieben war, atmete hörbar aus. »Du magst dich vielleicht als Sohn von Thot selbst entpuppen, junger Huy, aber bis dahin haben wir beide Mägen, die gefüllt werden müssen. Ich habe Hunger. Können wir schauen, wo das Mittagsmahl serviert wird?«
Huy lachte. »Eine guter Vorschlag! Ich möchte nicht mit den Priestern essen. Lass uns den Speisesaal der Schule suchen. Er kann nicht weit weg sein.«
Der Schulbereich des Tempels ähnelte ebenfalls seinem Gegenstück in Iunu, und Huy hatte keine Schwierigkeiten, den Saal zu finden, wo bereits gegessen wurde. Ungefähr einhundert Knaben und junge Männer saßen an den langen Tischen, und der Raum war erfüllt von ihren an-und abschwellenden Gesprächen. Huy blieb zögernd in der Tür stehen und hielt nach einem freien Platz auf einer der Bänke Ausschau. Einer der älteren Jungen bemerkte ihn und kam eilig herüber, gefolgt von einem zunehmenden Raunen. Immer mehr Köpfe drehten sich in Huys Richtung und immer mehr Finger verharrten regungslos. »Bist du Huy, der Gast des Meisters?«, fragte der junge Mann. Nervös fuhr er mit der Handfläche über seinen rasierten Schädel und faltete dann seine beringten Hände über dem emaillierten Amulett auf seiner nackten Brust. »Ich heiße Ib. Ich bin heute verantwortlich. Setz dich neben mich. Will dein Wächter bei den Dienern essen?« Er geleitete Huy durch ein Meer neugieriger Augenpaare zu einem der Tische, wo auf sein leises Wort einer der Essenden aufsprang, sich ungeschickt vor Huy verbeugte und zwischen seine Kameraden auf der Bank gegenüber quetschte.
Linkisch und beschämt nahm Huy Platz, der Wächter blieb hinter ihm stehen. »Es tut mir leid, aber mein Wächter muss hier essen«, erklärte er und wünschte aus tiefstem Herzen, er hätte sich doch für die Gesellschaft der Priester entschieden.
Ib nickte heftig. »Ich beauftrage einen Diener«, sagte er und eilte davon.
Huy zwang sich, in die Dutzende von Augen zu blicken, die immer noch auf ihn gerichtet waren. »Ich soll euch von meinen Schulkameraden in Iunu grüßen«, sagte er in die Stille hinein. »Natürlich wären sie lieber mit mir hier, statt die Fron des Unterrichts zu erdulden, aber da wir alle unter der Fuchtel unserer Lehrer stehen und tun müssen, was sie sagen, brüten sie über den Schriftrollen, während ich in dieser wunderschönen Stadt bin. Sicher wird ihnen nachgesehen, dass sie mich beneiden!«
Gedämpftes Lachen brach die momentane Spannung. Die Gespräche setzten wieder ein, und der Junge neben Huy wandte sich wissbegierig an ihn. »Ist es wahr, dass du ein besonderer Seher bist und nach Chmunu gekommen bist, damit sich der Meister mit dir beraten kann?«, fragte er. »Offiziell wurde nichts über deinen Besuch gesagt, aber du weißt ja, wie
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