Der Seher des Pharao
ist angefüllt mit uraltem Zauber, er lebt hier, und ich gehe hindurch, als wäre er Luft. Amunmose und der Wächter schienen nichts von der Veränderung um sie herum zu bemerken.
Sie kamen zur geschlossenen Tür des inneren Hofs, und Amunmose streckte die Hand aus. »Gib mir den Brief für den Oberpriester. Der Meister hat mir befohlen, ihn abzugeben. Mir! Einem Kochlehrling!« Er legte seine Sandalen ab und klopfte laut an die kleine Tür in einem der großen Kupferpaneele, in die das Bild Thots getrieben war. Die Tür wurde geöffnet, eine gemurmelte Frage folgte, und Amunmose verschwand im Inneren. Huy betrachtete den gebogenen Ibisschnabel des Gottes. Thot hielt in der einen Hand eine Schreiberpalette und in der anderen einen Pinsel. Sein rotgoldenes Vogelauge schimmerte gütig. Huy, den die Spannung schwindlig machte, schloss die Augen.
Er hatte das Gefühl, sehr lange bewegungslos im Schatten des Wächters zu stehen. Der äußere Hof hinter ihnen war leer und ruhig, die Luft still. Dann öffnete sich die Tür endlich wieder, und Amunmose kam mit einem dünnen Mann unbestimmbaren Alters heraus. Er hatte seine dunklen Augen mit Kajal nachgezogen und sein langes weißes Gewand mit silbernen Anch-Zeichen gegürtet. An einem Ohrläppchen hing ein schwerer Silberanhänger in Form eines stehenden Pavians, in dessen offener Schnauze die scharfen, gebogenen Reißzähne zu erkennen waren. Seit Monaten hatte Huy nicht mehr an den Elfenbeinaffen gedacht, den sein Onkel und seine Tante ihm geschenkt hatten, doch jetzt war er einen Moment lang wieder im Garten seiner Eltern mit dem Stein in der Hand, und zu seinen Füßen lagen die Scherben des verhassten Spielzeugs. Der Pavian schwang sanft gegen den dunklen Hals, als sich der Mann zur Begrüßung vorbeugte und Huy mit unverhohlener Neugier musterte.
»Du bist größer und jünger, als ich nach Ramoses Brief erwartet hatte, Huy, Sohn des Hapu. Willkommen in Thots Tempel. Ich bin Mentuhotep, sein Oberpriester.« Auf Huys Gesicht musste etwas von dem Ekel und der Angst seiner kurzen Erinnerung zu sehen gewesen sein, denn Mentuhotep lächelte gequält. »Ich trage zwar den Namen des Kriegsgottes Month, aber ich versichere dir, dass ich absolut friedliebend bin«, fügte er hinzu und schloss die Tür zum inneren Hof. »Nimm dein Gepäck und folge mir. Ich habe eine Kammer im Priesterquartier für dich herrichten lassen. Amunmose, es steht dir frei, deine Familie zu besuchen. Ich lasse dich rufen, wenn Huy seine Aufgabe hier beendet hat. Du bist auch entlassen.« Das galt dem Wächter, doch der schüttelte den Kopf.
»Ich habe Anweisung, Huy außerhalb seiner Kammer, wo er geht und steht, zu folgen. Verzeih mir meine Ungehörigkeit, Meister, aber ich muss meinen Befehlen gehorchen.«
»Meine Tempelwachen wären durchaus in der Lage, diese einfache Aufgabe zu erfüllen«, sagte Mentuhotep freundlich, »aber ich werde Ramoses Wunsch entsprechen. Überlassen wir diesen Tempelhof den heißen Fingern seines Gottes.«
Huy wandte sich an Amunmose. »Danke für deine Begleitung«, sagte er und fühlte sich klein und verletzlich, als Mentuhotep zu dem offenen Gang schritt, der zwischen der Außenmauer und dem inneren Hof verlief.
Amunmose grinste. »Lass dir Zeit hier, Huy, damit ich die Lauchsuppe meiner Mutter ausgiebig genießen kann«, flüsterte er und ging weg.
Die Priesterquartiere waren denen im Re-Tempel ähnlich: eine Reihe von Kammern an einem langen, offenen Gang, der hinter dem Allerheiligsten endete, wo ein grasloser Weg zu den Küchen, der hohen Außenmauer sowie den Gemüsegärten und den Ställen dahinter führte. »Thots Heiliger See liegt auf der anderen Seite des Bezirks«, antwortete Mentuhotep auf Huys zaghafte Frage, blieb vor einer der namenlosen Kammern stehen und drückte die Tür auf. »Wenn du schwimmen willst, musst du zurück an den Kanal gehen, der Fluss ist zu weit weg. Aber das ist nicht empfehlenswert, denn viele Leute werfen ihren Abfall hinein.«
Huy sah sich in seinem neuen Heim um. Es war etwas kleiner als der Raum, den er sich mit Thutmosis teilte. Vor dem niedrigen, schmalen Bett lag eine Schilfmatte auf dem Steinboden. Auf dem nackten Tisch daneben standen eine hölzerne Thot-Statue und eine Öllampe. An der gegenüberliegenden, weiß getünchten Wand befand sich ein Pult mit einem Hocker darunter. Schließlich gab es noch eine Kleidertruhe, deren Deckel offen stand. Keines der wenigen Möbelstücke hatte irgendeine Verzierung, und die
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