Der Seher des Pharao
Ich hätte meinen Mund halten sollen. Aber wie sollte das angesichts einer Vision gehen, die so plötzlich und kraftvoll über mich kam, dass ich mich nicht dagegen wehren konnte?
Den Rest des Nachmittags wanderte Huy durch den Tempelbezirk, und es wurde ihm zunehmend klarer, dass die Anlage zwar der aller großen Heiligtümer entsprach, die Umgebung hier jedoch die einzigartige Heka-Atmosphäre, die sie durchdrang, nährte und steigerte. Auf den gut gewässerten Grasflächen wuchsen keine Blumen, sondern nur vereinzelte Palmen mit glatter Rinde. Hier und da standen Steinplastiken von Thot, deren kleine Schattenkreise niemand zu betreten wagte, wie Huy beobachtete. Den ausschreitenden Gott, dessen Ibisschnabel auf die Palette gerichtet war, die er zum Schreiben erhoben hatte, umgab ein unsichtbarer Ring von Macht, der höflich respektiert wurde. Vor der Mauer des äußeren Hofs hockte zwischen hoch aufragenden Säulen eine Reihe steinerner Paviane, und auf dem weitläufigen Vorplatz hinter ihnen wogte die Masse der Gläubigen. Huy fiel auf, dass die Leute nicht zu einem Schwätzchen verweilten, wenn sie ihr Ritual beendet hatten. Der äußere Hof des Re-Tempels in Iunu war üblicherweise voller Menschen und insbesondere am Morgen und am frühen Abend häufig mit lärmender Fröhlichkeit erfüllt. Wie auf den Marktplätzen tauschte man dort gern Neuigkeiten aus und begrüßte Freunde. Im Thot-Tempel überwogen hingegen Feierlichkeit und Verehrung.
Der Heilige See kam ziemlich plötzlich in Huys Blickfeld, als er um eine Ecke des Hauptgebäudes bog und auf eine niedrige Lehmziegelmauer zuging, die von einem offenen Durchgang unterbrochen wurde. Zu Huys Überraschung und Freude wurde er von einer kleinen Thot-Statue bewacht, die auf einem Piedestal stand. Zu ihren Füßen befand sich eine wunderschön gearbeitete, lächelnde Frauenfigur, die in ein Leopardenfell gekleidet war und gleichfalls Schreiberpalette und Pinsel in der Hand hielt. Vor ihrer Stirn richtete sich die Uräus-Schlange auf, und aus ihrem Kopfputz stieg ein Stern empor. Hinter den beiden glitzerte der See in der Sonne. Anhor deutete auf die Reihe der Sykomoren am Ufer: »Dort können wir uns vielleicht eine Weile hinsetzen. Es ist dir ja gestattet, an das Ufer des Sees zu gehen.«
Doch Huy war noch mit den Statuen beschäftigt. »Das muss Thots Gattin sein. Sie ist wunderschön! Kennst du ihren Namen, Anhor?«
Der Mann zuckte mit den Achseln, aber ein Priester, der gerade aus dem See kam und sich in ein Leinentuch wickelte, hatte Huys Frage gehört. »Sie heißt Seschat«, sagte er mit einem Hauch von Verwunderung in den Augen. Mein Unwissen hat ihn sicher schockiert, dachte Huy, als er den Blick erwiderte. »Sie ist in der Tat Thots Gemahlin, die Dame der Bücher, Bibliothekarin des Paradieses und Schutzgöttin der Mathematiker, Architekten und Buchhalter.« Er lächelte. »Sie wohnt in der Nähe des Isched-Baums, und eine ihrer Aufgaben ist es, den Namen eines jeden Pharao auf ein Blatt zu schreiben, damit er Unsterblichkeit erlangen kann. Siehst du den Palmzweig mit all den Kerben neben ihr? Darauf verzeichnet sie die irdischen Jahre jedes Königs. Wenn ein neuer Tempel gebaut werden soll, spannt sie zusammen mit dem Pharao die weiße Schnur für die Fundamente. Thot ist für alle zuständig, die das geschriebene Wort verehren, Seschat ist es in erster Linie für den, der auf dem Horus-Thron sitzt. Wir, seine Priester, lieben sie aber auch sehr.« Er machte eine entschuldigende Geste. »Verzeih meinen belehrenden Ton. Ich bin Thots Oberarchivar und Erster Bibliothekar im Lebenshaus hier in Chmunu. Und du bist Huy?« Er verbeugte sich. »Du bist gekommen, um den zweiten Teil des Buches Thot zu lesen?« Huy nickte. »Dann habe ich eine Bitte: Wenn du später alle fünf Teile gelesen und ihre Mysterien verstanden hast, kannst du dann noch einmal kommen und mich aufklären? Ich habe die drei Rollen mit dem zweiten und vierten Teil gelesen, die sich in meinem Archiv befinden, aber ich habe nicht gewagt, nach Iunu zu fahren, um den Rest anzuschauen. Die Warnungen haben mir Angst gemacht.« Er sah Huy neugierig an. »Hast du keine Angst davor?«
Huy verzog das Gesicht. »Es nützt mir nichts, wenn ich Angst habe, denn ich muss sowieso den Befehl befolgen, sie alle zu lesen. Wie heißt du, Meister?«
Der Mann schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Oh, ich bin so unhöflich. Ich heiße Chanun.« Er lachte, und sein gesamtes Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher