Der Seher des Pharao
und spüren, wie sie in seiner Kehle brannte, bis er jene Lektion gelernt hatte, die viel wichtiger war als alles, was ihm seine Lehrer eintrichterten: Traue keinem Menschen, niemandem – außer Thutmosis. So einfach und so schrecklich war es.
Huy sollte sich für den Rest seines Lebens an dieses Gebot halten.
14
Huys Ausbildung endete still und ruhig am zehnten Tag von Paophi. In dem Unterrichtssaal, in dem er in den letzten zwölf Jahren so viele glückliche und auch bange Stunden verbracht hatte, überreichten ihm seine Tutoren nacheinander je eine Papyrusrolle, auf der sie ihm seine Kenntnisse bescheinigten. Sie lobten seine Intelligenz, seinen Arbeitseifer und seine Bereitschaft, den schützenden Hort der Schule zu verlassen und sich der Welt zu stellen. Der Oberpriester Ramose beobachtete die Szene lächelnd. Huy, der die Rollen und die Lobreden mit Verbeugungen und gemurmeltem Dank entgegennahm, war eigentlich nicht bereit, dem Duft von Papyrus und Tusche Lebewohl zu sagen. Mit einem gewissen Bedauern stellte er fest, dass ihm das Ritual fehlen würde, jeden Morgen seine Matte auszurollen, das Gebet zu Thot zu sprechen, die Palette zu nehmen und zu dem Lehrer auf dem niedrigen Hocker vor ihm aufzuschauen. Plötzlich erschienen ihm die Stimmen der Klassenkameraden, die die gelernten Texte wiederholten, der Geruch nach Essen, der gegen Mittag in den Raum drang und die jüngeren Schüler unruhig werden ließ, und die Räucherharzschwaden, die gelegentlich von Res Heiligtum herüberwehten, als etwas Kostbares.
Nachdem die kleine Zeremonie beendet und die Lehrer hinausgegangen waren, kam Ramose zu Huy und legte die Hand fest auf seinen Kopf. »Sei zwei Tage lang müßig, Huy. Pack deine Sachen zusammen. Ich lasse dir eine Kammer neben meinen Gemächern richten und habe einen persönlichen Diener für dich bestimmt. Du kannst in deine neue Kammer ziehen, wann du willst. In drei Tagen erwarte ich dich mit deiner Palette zur Arbeit. Dann besprechen wir auch deine Pflichten und deine Entlohnung.« Er tätschelte Huy kurz, ehe er die Hand wegnahm. Huy hatte ihn noch nie so fröhlich erlebt. »Du solltest deiner Familie schreiben und ihr von der Veränderung in deinem Leben berichten – falls du das nicht bereits getan hast.«
Wie betäubt schüttelte Huy den Kopf und hätte sich am liebsten über die Stelle gestrichen, die der Oberpriester berührt hatte. Irgendwie war ihm übel. Ramose deutete eine Verbeugung an und verließ den Raum. Mit den Rollen im Arm folgte ihm Huy langsam und ging beklommen in den verlassenen Hof und zu der Kammer, die er so viele Jahre mit Thutmosis geteilt hatte.
Einen Moment lang blieb er in der Tür stehen. Thutmosis’ Bett war abgezogen, sein eigenes ordentlich gemacht, der Tisch mit der Chenti-Cheti-Statue und seiner Palette abgewischt, der Boden gefegt. Irgendwie kam ihm all das unwirklich vor. Nach zwölf Jahren der festen Tagesabläufe schien die Zukunft nun als große Leere auf ihn zu warten.
Er betrat den halbdunklen Raum, zog seine Kiste unter dem Bett hervor und warf die Rollen, die ihm die Freiheit versprachen, hinein. Dann saß er ratlos auf dem Bett. Sofort erschien Anuket vor seinem geistigen Auge – Anuket mit ihren Ebenholzaugen und -haaren und dem im Mondlicht schwarzen Mund. Er schaffte es, das Bild zu verdrängen. Mögen die Götter dafür sorgen, dass ich sie nie wieder sehe, dachte er wütend. Aber er wollte in diesem Moment nicht an die Götter denken. Er war auf freundlichere Bilder aus: der Anblick und die Stimmen seiner Schulkameraden, der Geruch des Pferdes, wenn er auf dem Wagen stand, die flackernden Schatten der Lampe an der Decke, wenn Thutmosis und er im Bett lagen und sich vor dem Einschlafen unterhielten. Mein ganzes Leben hat sich aufgelöst. Alles ist verschwunden. Wohin ich auch schaue, alles ist anders. Und immer noch keine Nachricht von Methen. Oh Atum, Gott, den ich zugleich liebe und hasse, lass es nicht dein Wunsch sein, dass ich hierbleiben muss, in einer Kammer neben dem Oberpriester, auf ewig unter diesen scharfen, klugen Augen!
Lange Zeit saß er da und fühlte sich schrecklich ohnmächtig. Doch am frühen Nachmittag trieb ihn der Hunger in die Tempelküche. Er aß eine kalte Mahlzeit im Stehen neben einem der Tische, während die Küchendiener um ihn herumwuselten und ihn nervös machten. Er ging wieder zurück in die Kammer und lag angespannt und von der feuchten Achet-Luft schwitzend auf dem Bett. Er wusste nicht, was er tun
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