Der Seher des Pharao
Gesicht mit einem Laken ab. Die beiden Freunde setzten sich gegenüber und sahen sich an. Schließlich erklärte Thutmosis: »Es tut mir leid, Huy. Ich wusste, das Anuket einem anderen Mann versprochen war. Ich hätte es dir sagen sollen. Doch ich war mir so sicher, dass Vater dir alle Türen öffnen, dir ein einträgliches Amt und Anuket geben würde, sodass wir alle zufrieden und glücklich in Iunu leben könnten.«
»Er hat sich von mir abgewandt, weil ich deine Mutter nicht heilen konnte«, sagte Huy mit belegter Stimme. »Er will mich bestrafen. Er hat es nicht verstanden.«
Thutmosis hob die Augenbrauen. »Der Gedanke ist mir nicht gekommen. Aber ich glaube, du hast unrecht. Vater weiß, dass Anuket letztlich ein Stachel in deinem Fleisch sein würde. Da du sie liebst, wärst du ihrem dickköpfigen Eigensinn ausgeliefert. Sie würde dich zugrunde richten. Und dann ist da noch der Umstand, dass du ein Seher bist. Vater würde es nie wagen, den Zorn der Götter auf sich zu laden, indem er dich von deiner Berufung abhält.«
»Zur Duat mit meiner Berufung«, entgegnete Huy erschöpft. »Hör auf, ihn zu verteidigen, Thutmosis. Er hat mich im Stich gelassen. Er hätte mir wenigstens Arbeit geben können. Da sind wir uns so viele Jahre lang nahe, und dann weist er mich ab wie einen Fremden, wie einen unbekannten Bittsteller, der nicht vorgelassen wird. Er und mein Onkel Ker haben viel gemein.«
»Du hast recht«, sagte Thutmosis nach einer Weile. »Er hat dich schlecht behandelt. Du hättest hören sollen, wie ihn Nascha angeschrien hat, als er am nächsten Morgen sagte, du würdest nie mehr in unser Haus kommen. Ich glaube, Nascha ist diejenige, die dich liebt.«
Huy fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Sei still«, sagte er dumpf. »Ich muss lernen, nichts mehr für sie alle zu empfinden. Ich muss ein neues Leben anfangen.«
»Aber nicht ohne mich!«, bedrängte ihn Thutmosis. »Entferne dich nicht von mir, Huy! Was auch immer mit uns geschieht, wir müssen beieinander bleiben. Deine Vision hat das gezeigt!«
»Das stimmt. Ich liebe dich, Bruder. Ohne dich wären die Jahre hier wahrlich trübselig gewesen. Ich schreibe dir von überall her und besuchte dich so oft wie möglich. Danke, dass ich mich an deiner Schulter ausweinen durfte!« Er brachte ein Lächeln zustande, und Thutmosis konnte schon wieder grinsen.
»Nun, das ist geklärt. Doch ich dachte, der Oberpriester hat angeordnet, dass du bleibst und für ihn arbeitest.«
Huy schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht hierbleiben. Ich möchte nicht unter seiner Fuchtel stehen. Ich will nicht, dass jede meiner Handlungen beobachtet wird. Ich bin das Buch Thot leid und auch, dass ich behandelt werde, als würde Ägypten ohne mich untergehen.«
»Wohin willst du gehen?«
»Ich weiß es nicht.« Er stand von dem Bett auf und küsste Thutmosis auf die Wange. »Ich muss jetzt schlafen. Diese letzten Tage sind anstrengend und arbeitsreich. Auf Wiedersehen, mein teurer Freund. Mögen die Sohlen unser beider Füße immer fest sein.«
Der formale Abschied überrumpelte Thutmosis. Er erhob sich, umarmte Huy, versuchte, etwas zu sagen, umarmte ihn erneut und ging mit hängendem Kopf rasch weg. Huy lauschte dem Klang seiner Schritte auf dem Steinboden vor den Kammern, bis sie nicht mehr zu hören waren und Stille einkehrte. Er horchte in sein Herz und stellte fest, dass es verwundet, aber ungebrochen war. Seine Seele jedoch blieb leer, und er war froh darüber. Kein Gefühl würde dort mehr wohnen. Alle Emotionen würden ebenso rasch verschwinden, wie sie aufgetaucht waren. Das war, so wusste er, die einzige Möglichkeit für ihn zu überleben.
Am Morgen des vierten Tages schrieb er noch vor Sonnenaufgang einen Brief an Methen, verschloss ihn mit Wachs, aber ohne Siegelabdruck, und eilte zur Anlegestelle des Tempels, wo er einen der Boten fand, die regelmäßig die Korrespondenz am Fluss entlang beförderten. »Sag dem Priester Methen, dass Huy ihn bittet, dich zu bezahlen«, erklärte er dem Mann. »Wenn er es nicht tut, dann komm zu mir, wenn du zurück bist. Aber ich denke, es ist in Ordnung.« Der Bote nahm den Papyrus und legte ihn in seine Tasche. Huy ging zum Badehaus. Als er wach wurde, war sein Geist plötzlich klar gewesen. Er wusste, was er zu tun hatte. Die Entscheidung war bitter. Er konnte die Bitterkeit beinahe schmecken, als hätte er zerstoßene Aloe in seinem Mund, aber er würde sie nicht schlucken. Er würde sie auf der Zunge behalten
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