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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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jemandem von der Medjay, der städtischen Polizei, begegnet, hätte man ihn vielleicht verhaftet. Aber selbst die Polizei war nach Hause gegangen.
    Schon bald musste er langsamer gehen. Seine Beine zitterten, und er hatte heftigen Durst. Als er mit den Händen auf den Knien und hängendem Kopf in einer unbekannten Gasse innehielt, merkte er, dass sich die Gebäude um ihn herum bereits in einem schwachen Licht abzeichneten und er seine Füße sehen konnte. Die Morgendämmerung nahte. Er zwang sich, weiterzulaufen. Wahrscheinlich war er noch ein ganzes Stück vom Tempel entfernt, aber er wusste, wo er lag.
    Er kam an einem großen Steinbassin voll Wasser vorbei, das vor einem Schrein des Flussgottes Hapi stand. Vorsichtig, damit nichts von dem Wasser in seinen Mund geriet, das mit grünem Schaum bedeckt war, steckte er den Kopf und die Hände hinein und konnte so erfrischt seine Schritte beschleunigen. Schon bald kam der Fluss selbst in Sicht. Es wurde rasch heller. Huy war benommen und völlig ausgehöhlt, aber es würde ihm keine Zeit bleiben, sich zu waschen, und erst recht nicht, um etwas zu essen, bevor sein Unterricht begann. Nichts war ihm jetzt wichtiger, als seine Ausbildung zu beenden. Mit seiner letzten Kraft begann er wieder zu rennen, trabte am Tempelkanal entlang, über den riesigen Vorplatz und durch die Gänge hinter dem Allerheiligsten. Nur vor dem Unterrichtssaal blieb er kurz stehen, bis er wieder ruhiger atmete, dann ging er hinein.
    Sein Lehrer war mit den Schriftrollen in seinem Korb beschäftigt. Er sah kurz auf, um dann den Blick entsetzt ein zweites Mal zu heben. »Götter, was hast du gemacht, Junge?«, rief der Mann aus. »Erzähl mir nicht, dass Nacht dir erlaubt hat, die ganze Nacht in seinem Haus zu zechen!«
    »Natürlich nicht, Meister«, antwortete Huy gewandt. »Nachdem ich zurück war, bin ich in den Tempel gegangen, um für meine Zukunft zu beten. Da bin ich eingeschlafen. Es tut mir leid, ich habe mich weder gewaschen noch etwas gegessen.«
    Der Mann grunzte. »Dafür ist jetzt auch keine Zeit«, sagte er, doch sein Blick war freundlich. »Hol deine Palette. Uns bleiben nur noch sieben Tage.« Sieben Tage. Huy verbeugte sich flüchtig und gehorchte.
    Dank seiner Willenskraft stand er die langen Stunden durch. Erschöpft und leer, angefüllt nur vom Schmerz der Verzweiflung, stand er neben sich und beobachtete, wie er Diktate aufnahm, Gleichungen für den Architekten ausrechnete, die Truppenaufstellung irgendeiner Schlacht darlegte, deren Einzelheiten sofort wieder vergaß, bei Sonnenuntergang auf dem Sportplatz seine Pfeile auf ein Ziel lenkte, das am Ende der Welt zu hängen schien. Später kroch er in sein Bett, ohne sich die Mühe zu machen, seinen Schurz auszuziehen, und fiel in den tiefen Schlaf großer Erschöpfung.
    Im Morgengrauen, in den wenigen gesegneten Momenten zwischen Schlaf und Wachheit, war der vorangegangene Tag ein unbeschriebenes Blatt in seinem Geist. Doch dann ließ ihn die Bewusstwerdung aufschreien und aus dem Bett flüchten. Zerzaust und den Tränen nahe stand er da, das Morgenlicht, das durch den Durchgang hereinfiel, spielte auf seinem nackten Rücken und der Chenti-Cheti-Statue, während der Rest der Einrichtung noch im Dunkeln lag. Verbissen kämpfte er gegen die Tränen an, weil er wusste, dass er sonst nicht mehr mit dem Weinen aufhören könnte, legte den schmutzigen Schurz und das Lendentuch ab und ging ins Badehaus. Dort schrubbte er den Jasminduft weg, den er nie wieder ohne schmerzliche Erinnerungen würde riechen können, und entfernte mit dem Soda den Geruch der Hure aus seinen Poren. In der Kammer zog er sich rasch an und flocht seinen Zopf. Den mit Türkisen besetzten Ledergürtel, den ihm Nacht geschenkt hatte, vergrub er unten in seiner Kleidertruhe. Da er nichts essen konnte, trank er nur mehrere Becher Milch, die ihm ein Küchendiener brachte, nahm seine Palette und ging zum Unterricht.
    Drei Tage lang kämpfte er darum, sich ausschließlich auf seine Arbeit zu konzentrieren, zwang seine Gedanken, zu den Aufgaben zurückzukehren, wenn sie in Gefilde abzuirren drohten, die ihm den Mut nehmen würden. Als er am Abend des dritten Tages in seine Kammer kam, wartete Thutmosis dort auf ihn. Wortlos stand er auf und breitete die Arme aus. Huy kapitulierte, fiel schluchzend hinein und weinte lange Zeit am warmen Hals des Freundes. Der sagte nichts, sondern hielt ihn nur fest. Als Huy sich verausgabt hatte, machte er sich los und wischte sich das

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