Der Seher des Pharao
Iunu war die Nilschwemme gefährlich angestiegen und hatte ihn auf höher gelegenes Gelände gezwungen. Mit unsäglicher Erleichterung sah er deshalb das Gewirr niedriger Häuser am Horizont auftauchten, die den Südrand von Hut-Herib bildeten. Sie waren von dem grauen, ruhigen See der Nilschwemme umgeben und halb in der Flut stehende Palmenreihen zeigten an, wo sich die Felder befanden. In den ausladenden Wipfeln der Sykomoren saßen Scharen von Vögeln, die auf kleine Fische und Insekten im Wasser lauerten. Huy war müde und verschwitzt. Er sog die feuchte Luft in die Lungen und fragte sich, was er vermisste. Erst später wurde ihm klar, dass er insgeheim erwartet hatte, die Parfümblumen zu riechen, die sein Onkel anbaute, aber dafür war es die falsche Jahreszeit. Jetzt roch es hier nur nach schlammigem Wasser und dem Rauch der Herdfeuer.
Er musste einen großen Bogen Richtung Osten um die Stadt machen, bis er schließlich zu einer Straße oben auf einem der hohen Dämme gelangte, die zeitweilig die Stadtviertel separierten. Er erinnerte sich, dass er nicht dem Hauptbett des Flusses, sondern einem östlichen Nebenarm gefolgt war, der träge nach Norden floss und sich in das Große Grün ergoss. Und er erinnerte sich, dass Hut-Herib zwischen zwei Delta-Armen lag. Als Nut ihren Mund öffnete und langsam den blutenden Re verschluckte, überquerte Huy den Seitenarm und sah vor sich das Gewirr der Lagerhäuser und der Kais mit ihren zahllosen Schiffen. Jetzt wusste er ungefähr, wo er war. Danach brauchte er nicht mehr lange, um die Stadtmitte zu erreichen. Er hatte vergessen, wie hässlich Hut-Herib war. Die fruchtbaren Felder östlich der Stadt waren vielleicht schön, aber die Stadt selbst hatte keine Bäume, und die Anwesen der Reichen entlang des Seitenarms waren hinter hohen Mauern versteckt, über die nur ein paar schlaffe Zweige auf den Weg ragten.
Der Chenti-Cheti-Tempel nahm die eine Seite eines großen Platzes mit festgestampfter Erde ein, auf dem Bauern und Händler einen geschäftigen, lauten Markt veranstalteten. Als Huy ihn überquerte, wurden gerade die letzten Stände abgebaut und die nicht verkauften Waren auf Karren oder in die Tragekörbe geduldiger Esel geladen. Niemand beachtete ihn. Erschöpft ging er durch das Tor in der Mauer des Gottes und erkannte sofort den kleinen Rasen, die einzelne Sykomore und den kurzen, mit Steinen gepflasterten Weg wieder, der zu dem einzigen, bescheidenen Hof führte. Nirgendwo war ein Wächter zu sehen. Huy setzte seine Last ab. Nach Res mächtigem, mit Säulen umgebenem Tempel in Iunu erschien ihm die Anlage besonders klein. Hier rempelten ihn keine Gläubigen oder Klatschmäuler an. Der Innenhof war leer und der Tempel verschlossen.
Methens Quartier grenzte an den Hof. Die schmale Tür war gleichfalls zu. Huy klopfte. Nach einem kurzen Moment öffnete sich die Tür. Methen starrte Huy an, dann breitete sich ein erfreutes Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Huy! Jetzt schon! Ich habe dich erst nicht erkannt. Es ist lange her, dass wir uns gesehen haben. Komm herein.« Er umarmte Huy. »Du siehst aus, als wärst du den ganzen Weg von Iunu gelaufen!« Huy folgte ihm in die Hütte und schloss die Tür.
Methens Räume waren ebenso sauber und ordentlich wie der Priester selbst auch immer. Den größten Teil des Bodens bedeckte eine Bambusmatte. An der Wand links standen ein Arbeitstisch aus Holz mit einem Stuhl dahinter und zu beiden Seiten je eine einfache Truhe. Gegenüber dem Eingang befand sich ein kleiner Tisch mit zwei schlichten Stühlen. Zwei Öllampen darauf sorgten für die einzige Beleuchtung; die nackten Flammen flackerten im Luftzug. Eine dunkle Öffnung in der rechten Wand führte, wie Huy annahm, zu Methens Schlafraum. Die Vorstellung, sich auf einem Bett auszustrecken und den Kopf auf ein Kissen zu legen, erschien Huy köstlich. Müdigkeit übermannte ihn.
»Was brauchst du zuerst?«, fragte Methen. »Ein Bad oder etwas zu essen?«
»Ich bin von Iunu gelaufen. Ich hätte gern einen großen Becher Wasser, Methen, und dann, was immer du zu essen hast. Ich könnte eine ganze Woche schlafen, aber ich denke, ich sollte mich nach dem Essen erst einmal waschen. Können wir morgen reden? Ich bin so froh, bei dir zu sein, aber ich bin sehr müde.«
Methen betrachtete ihn liebevoll. »Mein Diener ist schon nach Hause gegangen. Setz dich hin und ruh dich aus. Ich gehe in die Küche und schaue, was ich finden kann. Wie du weißt, habe ich jetzt einen
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