Der Seher des Pharao
Freunde und erst dann Herr und Dienerin, Ischat. Außerdem würden wir nicht hier leben, wenn ich mir ein Armband leisten könnte.«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Allmählich mag ich unsere winzige Bruchbude. Ich fühle mich dort sicher.«
Am Ende jeder Woche gingen sie zu Hapus Haus. Ischat verschwand dann zu ihren Eltern, während Huy darum kämpfte, Gemeinsamkeiten mit seinem Vater zu finden und die besorgten Fragen der Mutter nach seinem Wohlergehen abzuwehren. Entspannt war er nur, wenn er mit Heby durch den Garten streifte. Er brachte dem Kind bei, Senet zu spielen und Hapus blendend weiße Wände mit Tieren zu bemalen. Er erzählte ihm Einschlafgeschichten und hörte zu, wenn Heby stolz aufsagte, was er in der Schule gelernt hatte. Eingedenk seines unglücklichen und aufreibenden ersten Jahrs in Iunu fragte er Heby eingehend nach seinen Lehrern und Mitschülern. Es stellte sich heraus, dass Heby ein fröhliches, intelligentes Kind ohne jene Charakterzüge war, die Huy das Leben so schwer gemacht hatten. »Ich werde bald für den Oberpriester arbeiten«, sagte Huy zu ihm. »Seine Räumlichkeiten sind auf demselben Gelände wie deine Schule. Vielleicht können wir uns nachmittags treffen, wenn dein Unterricht und meine Schreibarbeiten beendet sind.«
Heby schüttelte den Kopf. »Hapsefa holt mich jeden Mittag ab. Außerdem hat Vater mir verboten, dich im Tempel zu belästigen. Er sagt, du hast zu viel zu tun, um mich dort zu treffen.« Es lag Huy auf der Zunge, Hapus plumpen Versuch, dieses liebenswerte Kind von ihm fernzuhalten, wütend zurückzuweisen, aber dann besann er sich eines Besseren. Der Vater wollte nicht, dass Heby Huys Geschichte erfuhr.
Die Arbeit für Methen machte ihm Spaß. Der Oberpriester diktierte langsam, und da die Aufgaben einfach waren – meist Listen der benötigten Vorräte und der Opfergaben sowie gelegentlich ein Brief an Priesterkollegen in einem der zahlreichen Tempel des Landes –, konnte Huy seine Gedanken schweifen lassen, während er die Zeichen tuschte. Mittags aßen sie zusammen und tauschten Neuigkeiten aus. Anschließend hielt Methen seinen Nachmittagsschlaf, und Huy ging in sein Haus, wo ihn Ischat und sein wackliges Bett willkommen hießen. Abends schlenderten Ischat und er durch die Stadt, sahen den Handwerkern zu, die vor ihren Türen ihrem Geschäft nachgingen, wichen den Kindern aus, die sich, lauten Spatzen gleich, in den engen Straßen zusammenfanden und ebenso rasch wieder auseinanderstoben, tauschten höfliche Grüße mit den Gruppen von Frauen aus, die an den Mauern oder auf Hockern saßen und die kostbaren Momente, ehe es an der Zeit war, die Abendmahlzeit zuzubereiten, mit Klatsch verbrachten.
Als sich die Jahreszeit Achet dem Ende neigte, fand Huy allmählich zu einem Frieden, einer Gelassenheit, die aus dem regelmäßigen, vorhersehbaren Ablauf seiner Tage resultierte. Sein Leben wie das von Ischat bestand nur aus den notwendigen Arbeiten, Mahlzeiten und Ruhen. Sie blieben gesund, und Huy nahm den Lärm, der mit jedem Sonnenuntergang im Bierhaus einsetzte, bald nicht mehr wahr. Er lehrte Ischat in ihrem kleinen Zimmer beim Schein der Alabasterlampe Lesen und Schreiben. Dazu zeichnete er die Hieroglyphen mit Kreide auf die Tischplatte, und Ischat schrieb sie auf die Keramikscherben, die auf jedem Abfallhaufen in Mengen zu finden waren. Huy begann, wie einst seine Lehrer, mit den Namen der Götter, und Ischat lernte schnell und mit einer Ehrfurcht, die Huy berührte. Sie pflegte einzuatmen, die Zeichen, die er vor ihr aufgemalt hatte, anzustarren und mit dem Finger zu unterstreichen. »Dies heißt Amun?«, fragte sie dann oder »Dies heißt Ptah?«, als würde sie ihren Augen nicht recht trauen. Häufig kam Huy aus dem Tempel nach Hause und stellte fest, dass sie ihre Aufgaben mit zunehmend sicherer Hand auf die getünchten Wände geschrieben hatte. Schon bald konnte er zu den Zeichen übergehen, die nicht nur Dinge bedeuteten, sondern auch eine Vorstellung. Trotz all ihrer Selbstsicherheit war Ischat eine demütige Schülerin. Demütiger, als ich es je war, dachte Huy, als er wieder einmal durch die Tür kam und ihren Holzkohlezeichen gegenüberstand. Bei diesem Tempo ist sie in ein oder zwei Jahren eine passable Schreiberin.
Eines Nachmittags erwartete sie ihn mit einem triumphierenden Lächeln neben einer Liste, die sie an die Wand geschrieben hatte. »Das sind die Speisen, die du heute Abend zu essen bekommst«, kündigte sie an und schlug mit der
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