Der Seher des Pharao
Hand neben die Hieroglyphen. »Was hältst du davon?« Er kam näher und betrachtete ihr Werk. Sie wurde immer sicherer mit den Holzkohlestücken. Die Zeichen waren jetzt kleiner und ordentlicher, sie überschnitten sich nicht mehr und verliefen auch nicht in Schlangenlinien.
»Gebratenes Gänsefleisch«, las er laut. »Kohl mit Koriander. Erbsensuppe mit Senf. Gesalzene Oliven. Getrocknete Pflaumen. Bier. Oh, Ischat!« Er drehte sich um und umarmte sie. »Das ist großartig! Nur ein Fehler.«
Sie stieß ihn zur Seite. »Ein Fehler?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Wo?«
»Hier. Du meinst Oliven, baq-t . Der Plural ist richtig und auch die Hälfte der Hieroglyphe, der Vogel mit dem Dreieck, aber du hast dies« – er zeigte darauf – »statt des Halbkreises genommen und den Baum vergessen. Danach essen wir heute Abend gesalzene Helligkeit, baq .«
Sie seufzte. » Baq gibt es so oft«, murrte sie. » Baq , blenden, baq , ein wohlhabender Mann, baq , beschützt sein, und jedes baq wird ein bisschen anders geschrieben.«
»Ich bin sehr stolz auf dich«, sagte Huy und meinte das auch so. »Du machst einen Fehler nie zweimal. Gibt es wirklich gebratene Gans?«
Sie verzog das Gesicht. »Leider nicht. Ich war in der Küche, um meine Liste zu schreiben. Und auch keine getrockneten Pflaumen und kein Bier. Sykomorenfeigen. Aber es sieht gut aus, nicht wahr, Huy?«
»Das tut es. Ich bin begeistert.«
Sie gähnte. »Ich ruhe mich heute Nachmittag aus. Das viele Denken macht müde. Schön, dass ich dir eine Freude machen konnte, Huy.«
Der vertraute schmerzliche Stich durchfuhr ihn, als er ihr Vergnügen sah. »Du machst mir immer Freude, Ischat. Jetzt muss ich mich auch ausruhen. Heute Abend beginnen wir mit den Namen der Fische.«
Sie lachte. »Das ist auch nötig. Der Besitzer des Bierhauses hat ein Boot. Das kann ich ausleihen. Dann gehen wir zusammen fischen.« Die letzten Worte hörte er nur noch halb, während er sich auf seinem Bett ausstreckte und das Laken hochzog. Noch vier Monate, dann würde die Erntezeit beginnen.
Endlich bekam Huy einen Brief von seinem Freund Thutmosis. Er selbst hatte dem Freund nicht geschrieben, zum einen, weil er zu beschäftigt war, sich sein neues Leben einzurichten, zum anderen, weil er die Erinnerung an die Gesichter derer, die er geliebt und denen er vertraut hatte, nicht heraufbeschwören wollte. Das Heimweh nach Iunu begann langsam etwas nachzulassen. Doch als Methen ihm die Papyrusrolle hinhielt, auf der Thutmosis’ persönliches Zeichen, das Bild des ibisköpfigen Gottes Thot, in rotem Wachs prangte, war es sofort wieder da. »Ein Brief für dich aus Iunu«, sagte Methen. »Ein Bote hat ihn heute früh gebracht.«
»Er ist von meinem Freund Thutmosis«, antwortete Huy und nahm ihn behutsam. Einen kurzen Moment lang hatte er das Gefühl, er könne einen Hauch von Anukets Parfüm riechen, jene Mischung aus Blumen und Kräutern, die sie immer umgab. »Ich lese ihn später.« Er lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeiten des Vormittags und fürchtete den Moment, wo sich Methen recken, seufzen, das Abschlussgebet zu Chenti-Cheti sagen und das Essen kommen lassen würde. Natürlich ließ sich nicht vermeiden, dass die Stunden vergingen. Huy hatte keinen Appetit. Er packte sein Brot und etwas Ziegenkäse in seinen Leinenbeutel, um sie Ischat mitzunehmen, wünschte Methen angenehme Ruhe und setzte sich in das Gras unter der ausladenden Sykomore. Der Hof lag verlassen. Huy brach das Siegel und öffnete die Rolle.
Grüße an Huy, Schreiber des Chenti-Cheti-Oberpriesters und mein säumiger Freund. Warum hast du mir nicht geschrieben? Bist du krank? Hast du ein Haus? Gefällt dir deine Arbeit? Und vor allem: Huy, vermisst du mich ebenso sehr, wie ich dich vermisse? Im nächsten Monat beginnt die Schule wieder. Wie soll ich nur in unsere Kammer gehen, wenn ich weiß, dass du nicht mehr da bist? Ich fürchte, ich muss sie mit einem ungezogenen Erstklässler teilen, der abwechselnd vor Heimweh weint und über sein Schicksal wettert, sodass ich die Rolle des großen Bruders übernehmen muss, wenn ich doch einzig will, dass mein angenommener Bruder im Nachbarbett liegt. Wenigstens ist mein letztes Jahr wegen des Todes und der Mumifizierung meines Königs verkürzt. Der Vorsteher Harmose sagt, dass alle, die die Schule vor der letzten Achet hätten beenden sollen, ein größeres Pensum absolvieren müssen, damit sie nicht noch mehr Zeit verlieren. Ich kann nur stöhnen.
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