Der Seher des Pharao
auswendig könnt. Morgen vergeuden wir unsere Zeit damit, euch zuzuhören, wenn ihr sie zusammen vortragt. Bedankt euch bei Sennefer dafür.« Keiner wagte zu stöhnen oder zu flüstern, doch einige von Sennefers Klassenkameraden warfen ihm böse Blicke zu, ehe sie weiterschrieben.
»Warum hat er das gemacht?«, fragte Huy Thutmosis, als sie nach dem Unterricht ihre Matten zusammenrollten und sich mit den anderen Schülern auf den Weg zum Speisesaal machten. »Er wusste doch sicher, dass er bestraft wird.« Insgeheim nagte an ihm jedoch weniger Sennefers ungehobelte Bemerkung als vielmehr das Zitat, das der Lehrer gewählt hatte. Es ist mir egal, wenn Vater ›unwissend‹ ist, dachte er wütend. Er ist der beste Vater, den ein Junge nur haben kann.
»Ich glaube, es macht ihm nichts aus, wenn er bestraft wird«, antwortete Thutmosis. »Du hast Gerechtigkeit bekommen, Huy, aber für mich besteht immer noch die Beleidigung unseres Großen Gottes. Ich möchte wissen, wovor Sennefer Angst hat. Wir sollten ihm möglichst aus dem Weg gehen. Aus irgendeinem Grund scheinen wir ihn beide zu ärgern. Riecht das nach gebratener Gans?«
Sie saßen beim Essen nebeneinander. Huy langte kräftig zu, denn er fühlte sich erleichtert. Es gab nicht mehr viel Unbekanntes. Er hatte geglaubt, der Unterricht sei die letzte Hürde, die er zu nehmen hatte, doch als er gerade seinen dritten Schat-Kuchen verspeiste, klopfte ihm Harnacht auf die Schulter. »Nach dem Schlafen hast du eine Schwimmstunde, Huy. Ich werde dich hinbringen. Thutmosis, wenn du dich genügend vollgestopft hast: Kay wartet, um dich zurück zu eurer Kammer zu begleiten. Weißt du den Weg immer noch nicht?« Er ging davon.
»Für mich ist diese Anlage ein unendliches Labyrinth«, seufzte Thutmosis. »Ich hoffe, ich finde mich zurecht, bis wir zusammenziehen, denn es wäre zu peinlich, bei meinem Woher und Wohin, von dir, einem Jungen meines Alters, abhängig zu sein.« Er schwang die Beine von dem Kissen und stand auf. »Ich habe auch Schwimmunterricht. Unser Haus liegt am Fluss, doch meine Mutter hat mich nie in tieferes Wasser gelassen. Ist dein Vater wirklich ein Bauer? Was baut er an?«
Huy kam zu dem Schluss, dass dies keine böswillige Frage war. Seine ursprüngliche Eifersucht auf Thutmosis schwand angesichts der offenen Ehrlichkeit des Jungen, aber er wollte nach wie vor auch ein Schoßhund werden. Allerdings war der Anfang wenig vielversprechend, dachte er unzufrieden, als sie den Saal verließen. Erst eine Rüge wegen Arroganz, und dann bin ich an dieser blöden Jugendlocke herumgezerrt worden. Er gewöhnte sich immer mehr daran, dass sein Kopf geschoren war und sich nur dieses eine Haarbüschel sanft an seinem Ohr rieb. Es verschaffte ihm das erste leise Zugehörigkeitsgefühl zu diesem ebenso furchterregenden wie interessanten Ort.
Bevor er in der Nachmittagshitze einschlief, konnte er die Ereignisse des Morgens noch einmal durchgehen. Er dachte an die merkwürdige Schönheit der Hieroglyphen, deren Bedeutung er noch nicht kannte. Trotz der Kohleflecke und der verrußten Wasserschalen, in denen sie sich die Hände vor dem Essen waschen mussten, hatte es ihm Spaß gemacht, sie abzumalen. Genauso gern hatte er zugesehen, als Sennefer geschlagen wurde. Mit einer Woge der Erleichterung dachte er, dass ihm die Schule doch gefallen würde. Den stärksten Eindruck hatten jedoch die jungen Männer der obersten Klasse hinterlassen. Die Söhne des Adels mit den von Kajal umrandeten Augen, mit ihren edelsteinbesetzten Ohrringen, den schmalen Riemen an ihren dünnen Sandalen und dem Gold um Hals und Arme, die fern von den sonstigen Aktivitäten des Saals blieben. Ihre Jugendlocken waren verschwunden. Einige hatten weiterhin geschorene Köpfe, andere trugen Perücken. Und einige wenige hatten ihr Haar wieder wachsen lassen. Das gefiel Huy am besten. Alle hatten die Handflächen und zweifellos auch die Fußsohlen mit Henna gefärbt – zum Zeichen ihrer adeligen Herkunft. Huy versuchte, sich selbst in ihrem Alter vorzustellen, mit tiefer Stimme und ebenso geschmeidigen Muskeln, aber rasch gab er auf.
Als er vom Badehaus zurückkam, wartete kein Imbiss auf ihn. »Wenn man vor dem Schwimmen isst, bekommt man Bauchschmerzen«, erklärte ihm Harnacht auf seine Beschwerde hin. Huy war immer hungrig, wenn er aufwachte. »Keine Sorge, du gieriges Würmchen. Nach dem Unterricht wird dir Pabast etwas bringen.« Sie lächelten sich an. »Dir geht es heute schon besser. Du
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