Der Seher des Pharao
hübscher, zukünftiger Schreiber. Möge Thot seinen neuen Schüler mit Nachsicht betrachten!«
Sie betraten den Unterrichtssaal. Der Lärm war ohrenbetäubend. Jeder Schüler schien alles daran zu setzen, bevor der ernste Teil des Tages begann, noch einmal die Möglichkeit zum Schwatzen und Kämpfen auszunutzen. »Dort drüben ist Thutmosis«, bedeutete ihm Harnacht. »Hol dir eine Matte und setz dich neben ihn. Dort erwartet dich dein Lehrer. Wir treffen uns später.« Er ging weg und schlängelte sich durch den Lärm zu Kay, der ihm bereits winkte.
Huy nahm sich eine Matte von dem Stapel neben der Tür zum Speisesaal und ging zu Thutmosis. Um ihn herum befanden sich mehrere Jungen, manche mit gelben Schleifen an ihren Jugendlocken, andere mit blauen. Zwei der Jungen trugen auch ziemlich schmutzige weiße Schleifen. Nach einem desinteressierten Blick schenkten sie Huy keine weitere Beachtung. Der rollte seine Matte aus und setzte sich vorsichtig neben seinen künftigen Zimmergenossen.
Thutmosis nickte ihm würdevoll zu. »Du hast geheult. Ich weine auch, aber nicht, weil ich nach Hause will. Dieser Junge«, er zeigte auf ein stämmiges Kind mit lauter Stimme und einer blauen Schleife an seinem drahtigen schwarzen Zopf, »ist der Sohn des Fürsten vom Sepat Nart-Pehu. Das ist ein sehr kleiner unbedeutender Gau. Vorgestern war mein erster Tag hier, und als ich zu ihm sagte, dass ich nach unserem ruhmreichen König benannt bin, gab er mir eine unverschämte Antwort und schubste mich an den Teichrand.« Er hob den Arm, sodass Huy einen blauen Fleck auf seiner Brust sehen konnte. »Er ist mein Feind, denn er missachtet den mächtigsten Pharao, der je gelebt hat.« Er seufzte. »Nimm dich vor ihm in Acht, Huy. Er ist gemein. Ich werde mich an ihm rächen, aber ich habe mir noch nicht überlegt, wie.« Die ernsten dunklen Augen erkundeten Huys Gesicht. »Ich gehe ziemlich oft nach Hause. Wenn du willst, kannst du mitkommen. Mein Vater würde sich freuen.«
Huy war ein wenig verblüfft ob dieses wohlkalkulierten Schwalls unverlangter Informationen und wollte gerade fragen, wieso sich der Vater von Thutmosis freuen würde, als der Lärm plötzlich aufhörte. Eine Gruppe weiß gekleideter Männer war eingetreten. Die Jungen erhoben sich auf der Stelle, drehten sich zu ihnen herum und verbeugten sich. Es folgte ein Gebet zu Thot. Huy sollte es schon bald auswendig können, denn es wurde jeden Morgen gesprochen. Doch an diesem Tag senkte er nur den Kopf und lauschte. Anschließend setzte er sich wie die anderen still auf seine Matte.
Sein Lehrer hatte sich auf einem Hocker niedergelassen und betrachtete seine Schützlinge. Als er Huy sah, hellte sich seine Miene auf. Er lächelte. »Huy, Sohn des Hapu aus Hut-Herib. Willkommen in dieser Schule. Du stehst am Beginn einer Reise, die dich aus dem Sumpf der Unwissenheit hinauf auf die wunderbaren Höhen der Gelehrsamkeit führen wird. Weißt du, was Gelehrsamkeit bedeutet?«
Huy spürte, wie sich seine Wangen rot färbten. »Nein, Meister.«
»Gelehrsamkeit ist Wissen, gepaart mit Weisheit. Kannst du deinen Namen schreiben? Mal sehen. Sennefer, bring mir einen Korb und einen Beutel Holzkohle.« Der stämmige Junge, vor dem ihn Thutmosis gewarnt hatte, sprang eifrig auf, lief quer durch den Raum und kam mit einem der Körbe mit Keramikscherben zurück, die Huy am Tag zuvor gesehen hatte. Der Lehrer wählte eine aus und gab sie Huy zusammen mit einem Stück Kohle. »Schreib«, befahl er. »Und setz dich, Sennefer! Wieso hängst du an meinem Ellbogen?« Mit einem finsteren Blick kehrte der Junge zu seiner Matte zurück.
Huy nahm die Kohle, holte tief Luft und schrieb sorgfältig seinen Namen. Er hielt ihn dem Mann hin. »Gut«, lautete die Antwort. »Aber das geht noch besser. Wir alle müssen danach streben, die heiligen Zeichen, die Thot uns geschenkt hat, so vollkommen wie möglich zu schreiben. Damit erweisen wir ihm Ehre. Thutmosis, wie viele Epitheta hat der Gott?«
»Zweiundzwanzig, Meister.«
»Und was ist ein Epitheton?«
»Ein Attribut, mit dem ein Gott, eine Person oder ein Ding beschrieben wird«, antwortete Thutmosis mit kühlem Selbstbewusstsein.
Der Lehrer zeigte auf Huy. »Merk dir das, Huy, Sohn des Hapu. Morgen sollst du mir das wiederholen. Bis du in die nächste Klasse kommst, wirst du alle zweiundzwanzig Epitheta für unseren Schutzgott Thot kennen. Doch nun an die Arbeit. Holt euch eure Keramikscherben. Weiße Schleifen, ihr kopiert weiter die
Weitere Kostenlose Bücher