Der Seher des Pharao
Zeichen, die für euch auf der Tafel stehen. Nehmt so viele Scherben, wie ihr braucht. Gelbe Schleifen, ihr lest und schreibt die erste Strophe der Weisheiten des Amenemope weiter ab. Ich kümmere mich dann gleich um euch. Blaue Schleifen, ihr schreibt alles auf, was ihr noch auswendig von der ersten, zweiten und dritten Lehre des Königs Cheti für seinen Sohn Merikare wisst.«
»Aber ich weiß so doch gar nicht, was die Zeichen bedeuten«, flüsterte Huy Thutmosis zu. »Welchen Nutzen hat das?«
Der Lehrer hatte das gehört. »Weil heute dein erster Tag ist, werde ich nachsichtig mit dir sein, junger Mann«, sagte er streng. »Doch vergiss nie, dass es dir nicht zusteht, etwas infrage zu stellen, was dir aufgetragen wird. Die Form der Zeichen muss dir erst vertraut sein, ehe man dich lehrt, wofür sie stehen. Die Schlüssel zur Macht werden dir angeboten. Du musst sie mehr als alles andere hochachten. Und nun belästige mich nicht mehr!«
Die weiß gekalkte Tafel auf der Staffelei, die Huy schon gesehen hatte, war nun mit einer verwirrenden Anordnung schwarzer Zeichen und Figuren bedeckt, doch dass er die drei Zeichen für seinen Namen erkannte, ermutigte ihn. Zusammen mit Thutmosis stand er auf und holte sich eine Handvoll Tonscherben aus dem Korb, kehrte auf seine Matte zurück und begann sorgfältig zu kopieren, was er vorn sah. »Mit meinen Farben ginge das besser«, murmelte er und war erschrocken, als der Schatten des Lehrers über ihm auftauchte.
»Willst du die Stechmücke sein, die um meinen Kopf summt und ständig weggeschlagen werden muss?«, fragte der Mann. »Ist dein Vater so reich, dass er dir die Unmengen von Farben verschaffen kann, die im Verlauf deiner Ausbildung nötig wären? Farben sind ihnen vorbehalten.« Er zeigte hinter sich, wo die Schüler der letzten Klasse mit Paletten auf den Knien saßen und wortlos Farben und Tusche auf ihre Papyrusblätter auftrugen. »Eines Tages erlangst du vielleicht ihr Niveau«, fügte der Mann hinzu. »Doch bis dahin solltest du dich auf die Aufgabe, die vor dir liegt, konzentrieren, arroganter Kerl.« Er beugte sich tiefer zu Huy herab. »Du machst das gut. Verdirb dir deine Fortschritte nicht durch zu viel Eigenliebe.«
»Reich?«, ertönte eine höhnische Stimme hinter Huy. »Jeder weiß doch, dass sein Vater durch den Matsch des Deltas watet. Er ist ein Sumpfbewohner.«
Huy drehte sich um. Sennefer grinste ihn anmaßend an. Huy vergaß, wo er war. Die Kohle entglitt seinen Fingern, und die Scherben polterten zu Boden, als er aufsprang und sich auf Sennefer stürzen wollte. Doch eine kräftige Hand zog ihn an seiner Jugendlocke zurück und schüttelte ihn.
»Mein Vater ist nicht ungebildet!« Huy hatte Schwierigkeiten zu schreien, weil sich der Raum um ihn drehte und seine Zähne klapperten.
Der Lehrer ließ ihn wie ein Bündel auf seine Matte fallen und winkte Sennefer herbei. »Hol mir die Weidenrute.« Immer noch grinsend stand der Junge auf und schlenderte nach vorn. »Wenn du uns die erste Maxime des Ptahhotep vortragen kannst«, fügte der Mann hinzu, »werde ich dich nicht schlagen. Beginne.«
Sennefers Grinsen gefror. »Aber, Meister, die Maximen haben wir doch noch gar nicht gelernt«, protestierte er. »Und außerdem habe ich bloß die Wahrheit gesagt. Der Vater vom Sohn des Hapu ist ein Bauer.«
»Das mag sein. Mich interessiert nicht, was Huys Vater macht. Und es interessiert mich auch nicht, was dein Vater macht. Kann dein Vater den Unterricht für dich absolvieren? Nein. Kann er durch ein Wunder bewirken, dass du ein vollkommener Schreiber wirst? Gewiss nicht. Aber du hast einen Mann als Sumpfbewohner bezeichnet. Du hast jemanden beleidigt, den du gar nicht kennst. Aus welchem Grund benutzt du das beleidigende Epitheton«, er hielt inne und sah alle eindringlich an, »Epitheton, um einen Mann zu beschreiben, den du nie gesehen hast? Beginne mit dem Vortrag der ersten Maxime.«
Sennefer sah ihn finster an. »Ich kenne sie nicht.«
»Dann nimm deine Strafe entgegen.« Sechsmal zischte die Weidenrute durch die Luft und hinterließ brennende Striemen aus Sennefers Rücken. »Die Maxime beginnt mit: ›Sei nicht eingebildet auf dein Wissen, unterhalte dich mit dem Unwissenden wie mit dem Wissenden‹«, sagte der Lehrer. »Ich erwarte, dass alle blauen Schleifen heute nach dem Nachmittagsschlaf in das Lebenshaus gehen und sich von dem Wächter die Rolle geben lassen. Und du, Sennefer, wirst sie so lange laut vorlesen, bis ihr sie alle
Weitere Kostenlose Bücher