Der Seher des Pharao
vermissen.«
Thutmosis’ Hälfte der Kammer war immer ordentlich. Er warf seine verschmutzte Kleidung nicht auf den Boden, von wo Pabast sie aufsammeln sollte, wie das Harnacht Huy lässig vorgeschlagen hatte, sondern legte sie zusammengefaltet auf seine Kleidertruhe. Wenn Krümel oder Obstkerne auf sein Bett fielen, sammelte er sie allesamt auf und legte sie auf seinen Teller. Verschüttete er morgens seine Milch, war das eine kleine Katastrophe, die einen sofortigen Wechsel der Bettwäsche verlangte. Zum Badehaus ging er wie alle anderen Jungen nackt, doch er nahm stets seine Sandalen mit, damit seine Füße auf dem Rückweg sauber blieben. Huys fröhliche Unordnung peinigte ihn so sehr – auch wenn er großmütig auf jegliche Bemerkung darüber verzichtete –, dass Huy sein Bestes tat, um ordentlicher zu werden. Thutmosis’ Schleife war nie schmutzig, und nicht selten war seine letzte Handlung des Tages, sie im Hofteich zu spülen und mit seinem privaten Soda und einem Stein zu schrubben, bis aller Staub und Ruß entfernt waren.
Wie Harnacht betete auch Thutmosis jeden Abend vor seinem eigen Götterbild, in diesem Fall eine Re-Statue mit Sonnenscheibe über dem edlen Falkenkopf, die neben dem Bett stand. Huy beeindruckte die Sorgfalt, mit der sich sein Zimmergenosse um die Figur kümmerte. Er wusch sie ehrfürchtig, staubte sie jeden Abend ab und legte oft kleine Opfer wie Essen oder Blumen vor ihre Füße. »Re ist der Göttervater«, erklärte Thutmosis am ersten Abend in der gemeinsamen Kammer. »Er ist auch der Vater der Menschheit und aller Lebewesen, alle sind aus seinen Tränen und seinem Schweiß geboren. Wieso weißt du das nicht? Hat dich dein Vater nichts über die Götter gelehrt?«
Huy schämte sich plötzlich seiner Eltern. Dieses Gefühl war neu und beunruhigte ihn. »Ich glaube nicht, dass sie sich viel aus den Göttern machen. Ich meine, sie beten nicht viel, und wir gehen auch nicht regelmäßig zum Heiligtum von Chenti-Cheti. Aber meine Mutter hat mir das Nefer-Amulett geschenkt. Es ist also wohl nicht so, dass sie sich gar nicht um die Götter kümmern. Ich glaube, sie haben zu viel Arbeit, und unser Haus ist zu weit vom Heiligtum entfernt.«
»Können sie denn keine Sänfte mieten, wenigstens an den Festtagen?«
»Nein«, fuhr ihn Huy an. Zwischen ihm und dem kleinen Jungen, der im Schneidersitz auf dem Bett gegenüber hockte und ihn aufmerksam musterte, lag ein Abgrund. Er war größer und auch anders als die Kluft, die seinen Vater und Onkel Ker trennte. Wenn er bislang überhaupt darüber nachgedacht hatte, war ihm nur in den Sinn gekommen, dass Onkel Ker etwas größer und dicker als sein Vater war, was es ihm offenbar erlaubte, ihm andere Geschenke als sein Vater zu machen. Doch jetzt, wo er sie beide vor seinem geistigen Auge sah, erkannte er, dass Ker in Wahrheit kleiner und schmächtiger als Hapu war. Kers Haut war bleicher, seine Hände hatten keine Schwielen, sein Leinen war weicher. Wir sind ärmer als Onkel Ker, dachte er erschrocken. Das wusste ich, aber ich habe es mir bis jetzt nicht klargemacht. Aber auch Onkel Ker ist kein Adeliger wie der Vater von Thutmosis. »Das können sie nicht, weil sie nicht reich genug sind«, erklärte er seinem neuen Freund vorsichtig. »Sie haben genug zu essen und eine Dienerin, aber sie haben weder die Zeit noch die Mittel, um sich den Besuch des Heiligtums leisten zu können.«
»Das tut mir leid, Huy«, antwortete Thutmosis. »Wenn du erwachsen und Schreiber bist, kannst du ihnen vielleicht eine eigene Sänfte schenken.«
In den folgenden Wochen stellte Huy seinem Freund viele Fragen über Re. Als er meinte, erschöpfend Auskunft bekommen zu haben, holte er seinen kostbaren Skarabäus hervor und legte ihn unter den bewundernden Blicken seines Freundes dem Gott zu Füßen. »Du hast mich von Res Macht überzeugt«, sagte er. »Ich habe es vermisst, diesen Schatz zu betrachten. Doch unter dem Schutz von Re ist er jetzt sicher, sodass ich mich, wann immer ich will, daran erfreuen kann.« Er berichtete Thutmosis von seinem Namensgebungstag und merkte dann, dass er ausführlich von Ischat erzählte. »Sie ist nur ein Mädchen«, schloss er, »aber sie ist klug. Sie wäre bestimmt gut hier in der Schule.«
»Ich glaube nicht, dass Mädchen hierherkommen«, wandte Thutmosis ein. »Die Prinzessinnen werden im Palast unterrichtet. Einige Töchter von Freunden meines Vaters lernen Lesen, aber sie haben Hauslehrer.« Er verzog das Gesicht.
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