Der Seher des Pharao
nicht nötig, dich an sein Bild zu wenden, bevor du abends einschläfst?« Pabast hatte die Lampen in allen Kammern angezündet, während die Jungen aßen. Huy blickte verlegen in das besorgte Gesicht seines neuen Freundes. Harnacht saß vorgebeugt auf seinem Bett, nur sein Kopf war im Schein der Lampe, der Rest verschwand im Schatten.
»Mein Vater betet jeden Abend«, verteidigte sich Huy, »aber wir haben keine richtige Chenti-Cheti-Statue in unserem Haus.«
»Keine Statue? Sind deine Eltern so arm?«
»Nein!« Huy war aufgebracht. »Ich weiß nicht, warum«, fügte er lahm hinzu. »Aber wir gehen an unseren Namensgebungstagen zu dem Heiligtum in der Stadt.«
Harnacht verzog das Gesicht. »Anscheinend ist das im Delta anders. Ich kenne mich nicht aus mit …« Er zögerte. »Mit Landleuten, die auf den Feldern arbeiten.«
Aber mein Vater verehrt den Gott, dachte Huy, der auf eine Weise verwundet war, die er nicht verstand. Wie sehr hat er sich über meine selbstsüchtige Geschenkwahl geärgert! Das Lied für Re klang noch in seinen Ohren, und düster betrachtete er Osiris’ wissendes Lächeln.
Während es draußen dunkel wurde, spielte er mit Harnacht Senet. Der Ältere gewann alle Spiele bis auf zwei. Huy zog sich aus und kletterte in sein Bett. Harnacht blieb stehen und betete zu Osiris. Erst nachdem er sich vor der Statue niedergeworfen hatte, legte er die Kleider ab und blies die Lampe aus. Dunkelheit erfasste den Raum, und Huy, der auf der Seite lag, konnte im Türrahmen die Sterne erkennen. Das Heimweh schlug wie eine Welle über ihm zusammen. Die neuen Eindrücke und Tätigkeiten hatten es tagsüber eingedämmt, doch jetzt in der Stille, an diesem fremden Ort, so weit weg von zu Hause, hielt es nichts mehr zurück. Huy langte nach dem Nefer-Amulett, das er beim Ausziehen abgenommen hatte, packte es mit beiden Händen und presste es fest gegen sein Gesicht, während er weinte. Er versuchte, die Geräusche dabei zu unterdrücken, doch ganz gelang das nicht, und er hörte, wie Harnacht sich zu ihm umdrehte.
»Ich habe mich eine ganze Woche lang in den Schlaf geheult«, sagte Harnacht tröstend. »Du musst es einfach hinnehmen. Irgendwann geht es vorbei. Möchtest du heute Nacht mit in meinem Bett schlafen?« Doch Huy war stolz genug, das Angebot auszuschlagen.
Schließlich versiegten seine Tränen. Das Kissen war nass. Er drehte es herum und legte das Amulett zurück auf den Tisch. Harnacht atmete gleichmäßig und war in seinen Träumen versunken. Huys Augen brannten. Er dachte an den Chenti-Cheti-Priester, sein freundliches Gesicht, seine Ermunterungen und Ermahnungen. Aber das tröstete ihn nicht sehr. Am Morgen kam Pabast mit Milch, Gerstenbrot und getrockneten Feigen. Die beiden Jungen frühstückten in verschlafener Stille und schlossen sich dann dem lustlosen Zug zum Badehaus an. Huy war froh, dass er die Waschprozedur am Tag zuvor schon zweimal hinter sich gebracht hatte, denn so fiel ihm die Abfolge von Nassmachen, Schrubben, Abtrocknen und Einölen zunehmend leichter. Als er zurück in seine Kammer kam, war er hellwach. Dort lag frische Kleidung bereit, und er konnte sie ohne Schwierigkeiten anziehen. Doch vor der verwünschten Schleife musste er kapitulieren, sodass Harnacht gezwungen war, ihm beizustehen. Die beiden machten ihre Betten, und Huy zitterte trotz seiner glühenden Haut ein wenig, denn Re war gerade erst aus der Scheide von Nut hervorgekommen und hatte seine volle Kraft noch nicht erreicht. Auch hier, vierzig Meilen dichter an der gesegneten Stadt Weset mit ihrer berühmten Hitze und ihrer Wüste, war Tybi ein kalter Monat. Vater wird von früh bis spät beim Säen sein, dachte Huy, als er sich zusammen mit Harnacht auf den Weg zum Unterricht machte. Er wird Ischat und einige der Gärtnersöhne eingeteilt haben, die Gänse von der Saat fernzuhalten, doch über die Möwen wird er fluchen, denn die lassen sich nicht so leicht verscheuchen. Ach, Vater! Wirst du heute an mich denken? Und Mutter, wendest du zusammen mit Hapsefa die Trauben, die zum Trocknen ausliegen, und prüft ihr den Fortschritt der Gärung in den Krügen mit Gerstenbier? Vermisst ihr mich, meine lärmenden Frösche?
Er seufzte, und Harnacht legte den Arm um seine Schultern. »Hör deinem Lehrer einfach gewissenhaft zu, sitz da, ohne herumzuzappeln, und ehe du dichs versiehst, ist es Zeit, deine Matte zusammenzurollen und zum Essen zu gehen. In ein, zwei Tagen brauchst du mich gar nicht mehr an deiner Seite, mein
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