Der Seher des Pharao
Jaspis-Skarabäen und goldenen Anch-Zeichen. Allerdings waren die Flügel des schwarzweißen Leinenhelms, den er auf dem Kopf trug, der Schönheit des Halsschmucks abträglich. Hinter Thutmosis fielen Sonnenstrahlen auf eine weiße Wand, die mit Weinreben und blühenden Bäumen bemalt war. Als Huy ihn verwundert anstarrte, lächelte er. »Sei gegrüßt, Huy«, sagte er mit dünner, aber kräftiger Stimme – der Stimme eines alten Mannes. Im selben Moment war Huy wieder im Garten. Thutmosis sah ihn angsterfüllt an.
»Also? Wird etwas passieren? Was meinst du?«
»Ja, Du wirst lange genug leben, um zu einem reichen, hässlichen alten Mann zu werden, und wir werden immer noch Freunde sein.«
»Erzähl mir, was du gesehen hast!« Huy tat es. Der Schmerz in seinem Magen hatte nachgelassen, aber sein Kopf tat nach wie vor weh. »Was mich angeht, bin ich zufrieden«, sagte Thutmosis. »Aber was ist mit Nascha? Du hast eben bewiesen, dass die Gabe tatsächlich existiert, doch kann das, was du siehst, aufgrund dieses Wissens und durch Willenskraft verändert werden?«
Huys Vater war aus dem Haus gekommen und winkte sie heran. Huy erhob sich unsicher. »Ich weiß es nicht«, sagte er zum vierten Mal. »Erzähl niemandem etwas von all dem, Thutmosis. Denn wenn du das tust, betrachtet man mich im besten Fall bald als Kuriosität und im schlimmsten als Verwirrten, der zu meiden ist. Versprich es mir!«
»Ich habe dir mein Wort bereits gegeben.« Thutmosis ging zusammen mit Huy hinüber zu Hapu. »Ich nehme an, Vater und Nascha wollen gehen. Willst du mit uns auf dem Schiff essen?«
Huy lehnte ab. »Ich habe es mir anders überlegt«, sagte er bedächtig. »Aber frag Nacht, ob ich mit euch zurück nach Iunu fahren kann. Je eher mein Leben wieder in normalen Bahnen verläuft, umso besser.«
Thutmosis bedrängte ihn nicht. Nacht und eine stille Nascha waren herausgekommen, und die Sänftenträger machten sich bereit. Nachdem man sich verabschiedet hatte und die Sänften nicht mehr zu sehen waren, zog sich Huy in sein Zimmer zurück. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er unbedingt beten. Er hatte sich daran erinnert, was Imhotep gesagt hatte.
Er warf sich vor der kleinen Chenti-Cheti-Statue neben seinem Bett nieder, stand auf und wollte statt der üblichen Anbetung mit eigenen Worten zu dem Gott sprechen, aber sein Herz war so voll mit verwirrenden Fragen und widersprüchlichen Emotionen, dass er es nur schaffte, die Arme auszubreiten. »Was soll ich mit dieser … dieser Kraft anfangen, die mir verliehen worden ist?«, fragte er laut und hoffte, seine feste Stimme würde den Aufruhr in seinem Inneren übertönen. »Soll ich mich zum Seher erklären und die Gliedmaßen meiner Nachbarn packen? Das ist doch albern! Soll ich anbieten, allen, die es wollen, Fragen nach ihrer Zukunft zu beantworten? Teurer Chenti-Cheti, ich bin doch erst zwölf Jahre alt! Was werden diese Visionen aus mir machen?« Dieser Gedanke ließ ihn verstummen. Die Statue sah ihn ausdruckslos an. »Ich habe doch jetzt schon Angst«, flüsterte er. »Kann ich meine Mutter umarmen, ohne etwas über ihre Zukunft zu erfahren? Ich will nicht, dass die offen vor mir liegt. Was ist, wenn ich etwas Schreckliches sehe? Wie kann ich ihr danach noch in die Augen schauen? Wird Thutmosis Stillschweigen bewahren? Werde ich das tun? Soll ich das tun?«
Er warf sich auf seinen Stuhl, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Im Haus herrschte die nachmittägliche Ruhe. Sofort erschien der große Imhotep mit großer Deutlichkeit hinter seinen Augenlidern. »Ich soll dir diese Frage stellen: Willst du die Frucht des heiligen Isched-Baums kosten?« Die Papyrusrolle befand sich in seiner Hand. »Atum überlässt dir die Entscheidung. Er geruht, seine göttliche Weisheit mit dir zu teilen. Willst du das Buch lesen?«
Aber warum?, dachte Huy fieberhaft. Und warum habe ich nicht nach dem Grund gefragt, als die Möglichkeit bestand? Warum ist es mir nicht in den Sinn gekommen, Imhotep diese einfache, naheliegende Frage zu stellen, als ich das konnte? Was ist der wahre Grund des Schöpfergottes, jemanden wie mich mit solch einer Ehrfurcht heischenden Gabe auszustatten? Gibt es eine Verbindung zwischen dem Buch Thot und der Zauberlampe in meinem Inneren, die das Schicksal der Menschen beleuchtet, wenn ich will?
»Ich will es lesen.«
Er hörte, wie er seinem ehrwürdigen Begleiter die Antwort gab, spürte, wie er ohne nachzudenken die Lippen bewegte, wie das auch an jenem
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