Der Seher des Pharao
rieb ihre Finger. »Ich denke, du hast mir einiges vom dem, was mit dir beim Teich vor dem Tempel passiert ist, nicht erzählt, nicht wahr, Huy? Ich will alles wissen. Aber nicht jetzt. Du hast mir einen Riesenschreck eingejagt.« Sie erhob sich und schritt mit wehendem gelbem Kleid davon.
Thutmosis sah Huy ins Gesicht. Er hatte sich nicht gerührt. »Die Straße der Korbmacher in Iunu ist selten matschig. Nascha kommt bei ihren Streifzügen über die Märkte oft mit ihrem Leibwächter dorthin. Muss ich sie von der Straße der Korbmacher fernhalten, Huy? Jetzt oder in den kommenden Jahren?«
»Was meinst du?«, krächzte Huy. Doch er wusste es, er wusste es, und dieses Wissen wog schwer wie Stein in seinem Leib.
»Keine Schale mit Anubis-Öl auf dem Wasser, keine Lampe und kein Räuchergefäß, kein Wahrsager, der auf den Steinplatten liegt, keine Beschwörung. Und doch hast du Naschas Zukunft gesehen, stimmt’s?«
»Ich weiß es nicht.« Huy rieb seine Schläfen.
»Es war eine Warnung. Wir müssen beten, dass es nur eine Warnung war und nicht die Ankündigung von etwas Unausweichlichem.« Thutmosis kam auf die Knie und packte Huy bei den Schultern. »Wach auf, Huy! Wir beide wissen, was gerade passiert ist. Wir wissen jetzt, was das Geschenk der Götter ist. Du kannst die Zukunft von jedem, den du berührst, vorhersagen!«
»Das ist lächerlich«, entgegnete Huy dumpf. Die Steine in seinem Leib stießen aneinander, und er wand sich vor Schmerzen. »Selbst eine Rechet muss das Ritual einhalten und die Beschwörungsformeln sprechen, die die Götter zwingen, das Unsichtbare zu enthüllen. Und überhaupt, warum sollten sie mir diese Fähigkeit verleihen? Was kann ich, ein namenloser Junge aus einer hässlichen Stadt im Delta, schon für sie tun?«
»Du musst sie fragen.« Thutmosis’ Augen glänzten. »Hinter allem, was sie tun, steht eine Absicht. Meinst du, dass du deine eigene Zukunft sehen kannst, wenn du in einen Spiegel schaust?«
»Oh, sei still!«, bettelte Huy. Er streckte entschuldigend die Hand aus und zog sie hastig wieder zurück. Er hatte Angst, seinen Freund zu berühren. »Verzeih mir«, bat er. »Aber das, was durch Naschas Umarmung ausgelöst wurde, kam so plötzlich, dass ich ganz überwältigt bin.«
»Oh ja, Nascha.« Thutmosis’ Ton wurde drängend. »Ich liebe sie, Huy. Ich möchte nicht, dass ihr etwas Schlimmes zustößt. Wie kann ich sie schützen? Kann sie sich selbst schützen?«
»Ich weiß es nicht!«, schrie Huy auf. »Ich weiß nur, dass ihr in der Straße der Korbmacher etwas Schreckliches passieren wird!« Jetzt war es heraus. Und ich glaube es auch, dachte er voller Schrecken. Es war wieder der Tod, der in mir war. Naschas Tod ergoss sich in mich durch die … »Die Gabe«, sagte er traurig. »Ich fürchte, du hast recht, Thutmosis. Aber ich will sie nicht haben! Wie kann ich sie bloß loswerden?«
»Du willst doch keine Blasphemie begehen?«, wandte Thutmosis sanft ein. »Denk dran, was du damit Gutes tun kannst, Huy, wie viele Herzen du trösten kannst, was diese Gewissheit für so viele Menschen bedeutet!«
»Oder welchen Schrecken. Vielleicht geschieht es ja nicht wieder. Vielleicht war es nur ein Moment der Verwirrung, ausgelöst durch Sennefers Wurfholz. Ein Taumel. Eine Uchedu-Woge in meinem Blut.«
Thutmosis streckte die Hände aus. »Lass es uns herausfinden.«
Huy schreckte zurück. »Nein! Ich will diese Kälte nicht noch einmal spüren müssen, auch nicht die Übelkeit. Was ist, wenn ich etwas … Schlimmes fühle?«
Thutmosis sah ihn ruhig an. »Wir alle müssen sterben, Huy, selbst der Gott auf dem Horus-Thron stirbt und wird von einem anderen abgelöst. Bitte, versuch es.«
Mit einem inneren Abscheu vor den Göttern, vor der grotesken Fähigkeit, die, so fürchtete er, in seinem Inneren lauerte, ja, selbst vor Thutmosis, ergriff er die Hände des jungen Mannes. Vertraut und warm schlossen sie sich um seine Finger. Er hatte keine Bedenken, die Augen zu schließen. Die Sonne brannte heiß auf Huys Hinterkopf. Ich sollte tiefer in den Schatten gehen, dachte er, und dann spürte er, dass er wegsackte. Thutmosis’ Augen blieben groß, doch die Haut um sie herum blähte sich auf und legte sich in Falten. Seine Nase wurde länger und breiter. Sein Mund wurde dünner, aber seine Züge waren nach wie vor von der trügerischen Zerbrechlichkeit geprägt, die sein dickköpfiges Wesen Lügen strafte. Um den Hals trug er einen kunstvollen Kragen mit roten
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