Der Seher des Pharao
dich als geisteskrank bezeichnen«, sagte er heiser. »Aber das ist nicht die Form, in der du unter den speziellen Schutz der Götter gekommen bist. Nein, ich glaube dir. Doch es ist die wundersamste Geschichte, die ich je gehört habe.« Er zog eine Grimasse. »Und die absurdeste. Spielen die Götter ein Spiel mit dir? Was wollen sie von dir?«
»Die Rechet sagte, sie haben mir eine Gabe verliehen.« Huy war müde. »Sie wusste aber nicht welche, und ich weiß es auch nicht. Ich möchte einfach nur zurück in die Schule, lernen, Spaß mit dir haben und alles verblassen lassen.« Er nahm die Hände zwischen die Knie und beugte sich vor. »Hilf mir, Thutmosis.« Zu seinem Entsetzen begann er zu weinen. »Ich erinnere mich an den Duft der Blumen im Paradies, an ihre prächtigen Farben, an die atemberaubende Würde des Isched-Baums, an die Großartigkeit, Reinheit und Kraft von allem, was ich gesehen habe. Wenn ich jetzt über die Blumenfelder meines Onkels oder in den Himmel schaue, erscheint mir diese Welt kalt und leblos. Ich kann den Vergleich nicht verhindern, und das tut mir im Herzen weh.«
Thutmosis sprang von dem Bett, kniete sich neben Huy und zog ihn an sich. »Lieber Bruder, ich verstehe nur sehr wenig von dem, was du mir erzählt hast, aber in dem Moment, wo wir uns kennengelernt haben, habe ich eine Verwandtschaft gespürt. Wir passen aufeinander auf. Komm mit uns nach Iunu, wenn wir zurückfahren. Vaters Geschäfte sind in ein paar Tagen erledigt. Huy?« Huy wischte sich die Augen mit seinem Schurz ab, und Thutmosis lehnte sich zurück.
»Aber ich habe dem Vorsteher Harmose doch gerade erst geschrieben und um Erlaubnis gebeten, zurückzukommen«, wandte er zittrig ein.
Thutmosis schnalzte mit der Zunge. »Harmose wird sich freuen, wenn einer seiner besten Schüler aus Wut wieder Unsinn anstellt«, sagte er tapfer, und Huy lachte. »Das lässt sich alles regeln, Huy. Dein Bett ist immer noch frei.«
Huy stand auf. »Erst muss ich mit meinem Onkel sprechen. Er hat das zwar nicht gesagt, aber ich habe das Gefühl, dass er meine Ausbildung vielleicht nicht länger bezahlen will.«
»Wenn er das nicht will, dann wird es mein Vater tun. Er meint, dass jedes begabte Kind, gleich welcher Herkunft, lernen dürfen sollte. Ein unerreichbarer Traum, aber er ehrt ihn. Kannst du dir vorstellen, dass jene schrecklichen Kinder, die in dieser Stadt an den Kanälen spielen und mit Matsch werfen, feines Leinen und eine Jugendlocke tragen und die Lehren des Amenemope rezitieren?«
Huy lächelte gequält und erinnerte Thutmosis lieber nicht daran, dass er selbst nur eine Stufe über diesen kleinen Halunken stand. »Vater müsste jetzt da sein, und ich habe mich wieder erholt. Gehen wir zu unseren Familien.«
Hapu war tatsächlich schon da. Er saß im Schneidersitz in einer Ecke des kleinen, überfüllten Raumes. Seine Haare waren noch nass und nach hinten gekämmt, seine kräftigen Hände umfassten einen Becher mit Bier. Als Thutmosis hereinkam, erhob er sich schwerfällig, neigte den Kopf respektvoll und nahm wieder Platz. Warum das, fragte sich Huy. Wohl, weil Thutmosis ein Adeliger ist.
Seine Mutter sah anerkennend zu ihm herüber. Heby schlief fest in der Kuhle, die ihr Kleid zwischen den Schenkeln bildete. »So siehst du besser aus«, sagte sie fröhlich. Ihr Becher war offenbar voll Wein. Ihr Gesicht war gerötet.
Nascha winkte Huy. »Komm, setz dich neben mich. Es fehlt mir, dich und Thutmosis zum Entenerschrecken in die Sümpfe zu befördern. Es ist schön, dich zu sehen, Huy. Anuket lässt liebe Grüße ausrichten. Vater war der Meinung, dass sie noch zu jung ist, um das Haus ohne Mutter zu verlassen. Hast du dich vollkommen von der schrecklichen Verwundung erholt?« Huy hockte sich neben ihr Knie und sog den kostbaren Duft aus Myrrhe und Kassia ein, der sie umgab. Er war froh, dass ihr sonniges Gemüt wenig Raum für tiefgehende Selbstbetrachtungen ließ.
»Die Götter waren gnädig«, antwortete Itu für ihn. »Huy hat zu voller Geisteskraft zurückgefunden. Ah, da ist Hapsefa mit den Erfrischungen. Ich hoffe, du magst kaltes Täubchen, Fürst Nacht. Und natürlich gibt es frischen Salat, Zwiebeln und Feigen, unsere erste Ernte in diesem Jahr. Mehr Wein?«
Sie aßen, tranken und redeten in einer lockeren Atmosphäre. Nacht stellte Hapu viele Fragen über seine Arbeit und erkundigte sich nach Huys Zukunftsplänen. Huy antwortete vorsichtig, ein Auge auf seinen Vater gerichtet. Nascha plauderte mit Itu
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