Der Seher des Pharao
wunderbaren Ort geschehen war, während in der realen Welt Land sein lebloser Körper von einer Hand zur anderen gereicht wurde und fünf Tage vergingen. Fünf Tage. Doch in Imhoteps Gegenwart hatte die Zeit stillgestanden.
Huy wurde steif. Ein kalter Schauder durchlief ihn, sodass er sich vorbeugte und unwillkürlich seine Arme rieb. Die Zeit hatte stillgestanden. Fünf Tage tot, wie Methen ihn immer wieder erinnert hatte, doch Zeit hatte dort, wo sein Bewusstsein, seine Seele, sein Schatten oder was immer es gewesen war, sich getrennt von seinem Körper befunden und neben Imhotep unter dem Isched-Baum gesessen hatte, keine Rolle gespielt. Ich bin gestorben und kann in die Zukunft schauen, dachte er. Ich kann gleichzeitig hier und zehn, zwanzig Jahre weiter sein. Die Zeit spielt keine Rolle mehr für mich. Sie ist eine Illusion. Nur mein Fleisch bleibt gefangen in ihrem Netz. Das Schicksal eines jeden Ägypters liegt offen vor mir, wenn ich will.
Doch da war die Hyäne.
Er unterbrach besorgt den Schwung der Begeisterung, die auf den Moment der Kälte gefolgt war. Hyänen waren hässliche Aasfresser, die in vielen Häusern gehalten wurden, um die verschiedenen Abfälle und Innereien loszuwerden. Mit anderen Worten: zur Reinigung. Die Hyäne hatte zufrieden und mit halb geschlossenen Augen im warmen Gras gelegen. Sie hatte ihn ignoriert. Huy war klar, dass alles, was er an jenem himmlischen Ort gesehen und gehört hatte, von großer Bedeutung für ihn war. Vieles war noch vom Schleier des Geheimnisses verhüllt. Wofür also stand die Hyäne? Aufgrund ihrer würdevollen Zahmheit hatte sie etwas nahezu Edles gehabt. Damals hatte er das kaum bemerkt, und Imhotep schien sie gar nicht wahrzunehmen. War sie eine Botschaft, die er noch nicht ausloten konnte? Gehörte sie Imhotep, falls es so etwas wie Besitz im Paradies überhaupt gab? Diente sie dem Isched-Baum auf besondere Weise, oder ruhte sie sich dort einfach nur von ihren Streifzügen aus? Huy runzelte ruhelos die Stirn, seine vorherige Hochstimmung verschwand. Er spürte, dass die Hyäne ein entscheidender Faktor war, aber ihre Bedeutung erschloss sich ihm nicht, so sehr er sich auch anstrengte. Schließlich legte er sich mit einem Seufzer aufs Bett, um das ungute Gefühl beiseitezuschieben. Er wollte lieber an Thutmosis und die Fahrt nach Iunu denken und dösen.
Am frühen Abend, vor der letzten Mahlzeit des Tages setzte sich Huy zu seiner Mutter, die dabei war, die Kisten auszupacken, die Nacht mitgebracht hatte. In der ersten lag obenauf ein in Leinen gewickelter Kranz aus getrockneten Blumen: Narzissen, rosa Jasmin, kleine gelbe Astern und die Knospen weißer Seerosen waren mit dunklen Efeublättern und Majoranzweigen, die ein würziges Aroma verströmten, verflochten. »Den hat Anuket gemacht!«, rief Huy und nahm ihn vorsichtig. »Sie trocknet die Blumen selbst, aber sie verrät nicht, wie sie es schafft, die Farben so leuchtend zu erhalten. Sie liebt es, Kränze und Girlanden zu flechten.«
Itu sah ihn von der Seite an. »Du sprichst immer voller Zuneigung von ihr«, sagte sie bitter. »Schade, dass sie ihren Vater nicht begleitet hat. Ich hätte sie gern kennengelernt.«
»Ich finde das auch schade«, stimmte Huy zu. »Ich mag sie sehr. Darf ich den Kranz in mein Zimmer hängen?«
Itu nickte abwesend, weil sie mit dem Krug beschäftigt war, den sie gerade herausgenommen hatte. Sie roch an dem Siegel. »Olivenöl! Wahrlich ein großzügiges Geschenk. Es gibt weitere drei davon. Hapsefa wird sich freuen.« Sie setzte ihn ab. »Und was ist das? Oh, sieh nur, Huy! Safran aus Keftiu, die beste Medizin für einen kranken Magen!« Sie leckte an einer Fingerspitze, berührte damit das orangefarbene Pulver und probierte es vorsichtig. »Damit müssen wir sparsam umgehen, damit wir lange etwas davon haben.« Sie holte das nächste Geschenk aus der Kiste. Als sie schließlich alle Kisten ausgepackt hatte und sich zurücklehnte, war sie von Töpfen und Krügen in allen Größen umgeben. Da waren getrocknetes Johannisbrot aus Retenu, Pistazien aus Mennofer, graues Antimon für Salben, rotes Antimon für ihre Lippen, Bleiglanz und Holzkohle, die mit Gänsefett zu Augenschminke vermischt wurden, gemahlenes Ebereschenholz zur Wundbehandlung, je ein kleiner Topf mit Mandeln und Myrrhepulver für Arzneien sowie ein Alabasterkrug in Form einer Mohnblume, der bis zum Rand mit unverdünntem Opium gefüllt war. Itu seufzte – ob aus Neid oder aus Dankbarkeit, konnte Huy
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