Der Seher des Pharao
er das glatte Elfenbein spürte. Mit einem angeekelten Schaudern holte er den Affen heraus und trug ihn mit ausgestrecktem Arm durch den Gang und in den Garten. Von Res Blutopfer war nur noch ein Hauch von Rosa am Horizont zu sehen. Der Himmel zeigte ein sattes Dunkelblau, das schon langsam schwarz wurde. Nur ein paar Sterne waren schwach und blass zu sehen. Vom Mond gab es keine Spur. Der Garten war in Dämmerung gehüllt, nichts spiegelte sich im Wasser des Teichs.
Huy ging direkt zum Teich und umrundete ihn, bis er zu einem flachen, grauen Stein kam, der groß genug für den Affen war, und legte ihn darauf. Er kniete sich hin und nahm den Stein daneben in die Hand. Dabei streiften ihn Sellerieblätter am Handgelenk. Seine Mutter würde entdecken, dass die Steine auf ihrem Gemüsebeet anders lagen, und vielleicht würde sie auch winzige Elfenbeinsplitter zwischen Zwiebeln und Knoblauch finden. Doch sie würde das verstehen. Er hob den Stein mit beiden Händen hoch und schmetterte ihn mit all seiner Kraft auf das verhasste Spielzeug. Er hörte es splittern und krachen, aber das blöde Gesicht und die zuckenden Glieder waren noch zu erkennen. Wieder und wieder schlug Huy zu, der Schmerz über den Verrat seines Vaters und das Kneifen seines Onkels verlieh seinen Muskeln die nötige Spannung. Auf merkwürdige Weise heilte dies seine Liebe zu den beiden, doch vollkommen würde sie nie wieder werden. Erst als er die salzige Flüssigkeit auf seinen Lippen schmeckte, merkte Huy, dass er weinte.
Er war mit wenig Erfolg dabei, die Überreste zusammenzusuchen, als jemand hinter ihm ruhig sagte: »Ich kümmere mich um die Scherben, Huy, mach dir keine Sorgen.« Er sprang auf die Füße und wirbelte herum. Ischat beobachtete ihn regungslos, ihr Körper verschmolz mit dem dunklen Garten, und ihre Augen waren ebenso unergründlich schwarz wie der Teich. Sie lächelte kurz, einen Augenblick lang blitzten ihre Zähne weiß auf. »Geh und wasch dir dein Gesicht, und dann schlaf.«
»Was machst du hier, Ischat?«, stammelte er.
Sie kam näher und wischte mit beiden Händen seine Tränen weg. »Ich gehe oft noch in den Garten und unter die Obstbäume, wenn Mutter glaubt, dass ich im Bett liege. Die Nacht ist die einzige Zeit, die ich für mich habe. Deine Hand blutet.« Er starrte blöde darauf. »Ich bin ein ziemlich böses Mädchen«, fuhr sie nüchtern fort. »Ich bin selbstsüchtig und gierig und will dich immer ganz für mich allein haben. Es tut mit leid wegen heute Nachmittag. Ich möchte nicht, dass du noch böse auf mich bist, wenn du wegfährst.«
Huy schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht mehr böse auf dich. Das wäre so, als wäre ich böse auf meinen Fuß, weil er meinen Zeh gestoßen hat.« Er lachte unsicher. »Danke, dass du diesen Schlamassel für mich beseitigen willst. Ich möchte ihn einfach nicht mehr anrühren, nicht einmal in Scherben. Er jagt mir immer noch Angst ein. Ischat, ich weiß nicht … ich fürchte, so viele … wohin wird es mich verschlagen …« Sie streckte die Arme aus, und ehe er merkte, was er tat, ließ er sich von ihr umarmen, presste ihren drahtigen, heißen Körper an sich. Lange stand er so da, vergrub mit geschlossenen Augen sein Kinn in ihrem dicken Haar, spürte ihre ruhigen Atemzüge an seiner Schulter. Und dann war sie es, die sich löste. Sie sagte nichts, sondern drehte sich um und begann, die Affenscherben in ihren Rock zu sammeln.
Er sah ihr eine Weile zu, aber es schien, als habe sie seine Anwesenheit vergessen. Er wollte etwas sagen, aber er wusste nicht was, und schließlich ging er in sein Zimmer und legte sich auf sein Bett. Seine Augen brannten vom Weinen, und am liebsten hätte er sich zusammengerollt und so geheult wie in jener Nacht, als er aus dem Haus der Toten getaumelt war und Methen ihn zusammengekauert wie ein Tier in den Büschen gefunden hatte. Er rang den Drang und die Gefühle, die damit verbunden waren, nieder. Das war Huys erster echter Kampf gegen das Selbstmitleid.
7
Er stand vor Tagesanbruch auf, wusch sich rasch, nahm seine zwei Beutel und verließ das Haus zu Fuß. Er lief mit energischen Schritten durch die stille Stadt zum Kai, wo nachts Schiffe lagen. Die Beutel waren schwer und seine Arme schmerzten, doch es tat gut, auszuschreiten und die kühle Brise einzusaugen, die sich jetzt, kurz vor Res Wiedererscheinen, erhob. Und es war gut, ein Ziel zu haben, insbesondere weil dieses Ziel Flucht hieß. Es dauerte eine ganze Weile, bis er die Arouras
Weitere Kostenlose Bücher