Der Seher des Pharao
dass er sich vollständig in der Gegenwart befand, doch eine tiefe, raue Stimme drang an sein Ohr, eine Stimme, die absurderweise aus einem Mund voll tierischer Zähne zu kommen schien. Heißer Atem berührte seinen Nacken.
»Sage dem Kind Folgendes«, begann die Stimme mit einem leichten Grollen, aber klar verständlich. »›Geh zu einem Priester und bitte um ein Anubis-Band. Lass es dir um dein Handgelenk knoten.‹ Das wird mich zu seinem Wohl an meine Horus-Truppen binden. Erinnere ihn an das Versprechen von Amun: ›Alles Böse bleibt unter meinem Siegel.‹ Er soll zweimal täglich zu seinem Schutzgott beten, damit der Traum von ihm genommen wird. Er muss den Kopf vor dir beugen und das Siegel deines Schutzes bekommen. Das genügt.«
Huy unterdrückte seinen überraschten Aufschrei und schluckte seine Angst hinunter. Soll ich nicht nur Verkünder der Zukunft sein, sondern auch Bote der Götter, gesegneter Anubis?, fragte er stumm den warmen Atem, der seinen Nacken mit schrecklicher Regelmäßigkeit streifte. Wie weit reicht diese Gabe? Er hätte gern ›diese schreckliche Gabe, diese unerwünschte Gabe, diese Gabe, die wie ein Granitblock auf meiner Seele liegt‹ gesagt, aber das wagte er nicht. Plötzlich war da ein merkwürdig tonloses Glucksen, und die Erscheinung war verschwunden. Die Brise in Huys Nacken war jetzt kühl.
»Bitte, sprich mit mir, Huy«, flehte Samentuser. »Schweigst du aus Ärger?«
»Ganz und gar nicht.« Huy drückte die kleinen Finger und ließ sie los. »Du kommst aus Nefrusi, nicht wahr? Du verehrst Amun?« Samentuser nickte. »Und wie heißt es über Amun, erinnerst du dich?« Samentuser schüttelte den Kopf. »Alles Böse bleibt unter seinem Siegel. Ja? Alles Böse. Du hast doch sicher seine Statue neben deinem Bett. Ich möchte, dass du zu einem der Priester hier gehst und um ein Anubis-Band bittest. Lass es um dein Handgelenk knoten. Deine Eltern sind reich. Sie können das bezahlen, nicht wahr?« Huy nahm Samentusers verzückte Aufmerksamkeit als Zustimmung. »Anubis ist der Herr aller Bau. Er ist der Führer der bewaffneten Horus-Truppen.«
Samentuser bekam Angst. »Aber Anubis hat auch die Dämonenscharen unter sich, Huy.«
»Ich weiß. Aber das Band wird Anubis zu deinem Wohl binden. Du musst zweimal am Tag zu Amun beten, damit der Traum von dir genommen wird. Er wird dich hören, weil Anubis das Band achten und dich mit seinen Horus-Truppen schützen wird. Beuge deinen Kopf.« Der Junge gehorchte. Huy legte beide Hände auf den glatt rasierten heißen Schädel. »Meine Hände liegen auf dir. Mein Siegel ist dein Schutz«, sang er. Er hätte Samentuser gern gefragt, ob er Verwandte in Iunu hätte, bei denen er während der Nilschwemme bleiben könnte, wenn es besonders viele Krankheiten gab. Aber er traute sich nicht. Wenn der Junge an einem Fieber sterben sollte, dann war ihm dieses Schicksal von Geburt an vorbestimmt, und Huy durfte sich da nicht einmischen. Ich habe alles für ihn getan, was ich mir zutraue, dachte er, als Samentuser den Hof verließ. Der Priester wird wissen wollen, warum Samentuser ein Anubis-Band braucht. Wird er die Angelegenheit auf sich beruhen lassen, oder wird er mich einbestellen, damit ich es erkläre? Ich kann doch dann nicht sagen, dass der Gott selbst zu mir gesprochen hat! Ich verstehe das alles nicht! Ich möchte nicht die Augen der Götter auf mir spüren, möchte mich nicht wie ein Spielzeughund fühlen, den sie am Seil ziehen und durch dessen Maul sie bellen! Seine aggressive Blasphemie erschreckte ihn. Er murmelte eine Entschuldigung und legte sich wie die anderen Schüler zum Nachmittagsschlaf ins Bett, aber er fand keine Ruhe.
Nach einem Monat kam ein Brief seines Onkels. Er ging mit der Rolle in eine ruhige Ecke des Hofs, brach beklommen Kers Siegel und starrte erst eine Weile auf das sonnenbeschienene Areal, ehe er wagte, den Blick auf die ordentlichen schwarzen hieratischen Zeichen von Kers Schreiber zu senken. »Mein lieber Neffe Huy«, las er. »Ich habe mit dem Vorsteher korrespondiert und mehrfach mit Methen gesprochen, der in deiner Angelegenheit an den Re-Oberpriester geschrieben und um Unterstützung bei den Kosten für deine Schulausbildung gebeten hat. Ich habe mich auch im Hinblick auf Hebys Ausbildung an deinen Vater gewandt. Ich fühle deinem kleinen Bruder gegenüber ebenso viel Verantwortung wie damals dir gegenüber …« An dieser Stelle hielt Huy angespannt inne. »… und da dein Vater die Schulkosten für
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