Der Seher des Pharao
abschließt. Die Gabe in dir ist noch roh. Sie muss reifen. Und auch du musst auf eine Weise reifen, die den Göttern gefällt. Es ist meine und Ramoses Pflicht, dir zu helfen, dass du nicht nur die Kenntnisse erlangst, die dir dein Lehrer vermitteln will, sondern auch die Fähigkeit erlernst, die Gefühle zu meistern, denen die Götter misstrauen: Wut, Neid, Machtgier. Sie beschädigen und mindern die Sehergabe.« Sie klopfte ihm auf die Schulter und ließ ihn dann los. »Die Gabe darf dich nicht beherrschen. Sie muss dir Untertan werden.«
»Was der Vorsteher über deine schulischen Leistungen berichtet, ist hervorragend«, sagte der Oberpriester und hielt ein Papyrusbündel hoch. »Du lernst schnell und behältst das Erlernte. Du schreibst sauber und sicher. Du schwimmst wieder. Das verlangt Mut.« Die kühlen, unnahbaren Züge öffneten sich zu einem Lächeln. »Ich vertraue dich dem Architekten an, der dir die Grundlagen seines Gewerbes beibringen wird. Du wirst auch weiterhin mit dem Bogen schießen. Und du wirst jeden Tag hierherkommen. Welche Frage hat dir Imhotep unter dem Isched-Baum gestellt?«
Es widerstrebte Huy sehr, die Worte zu wiederholen, so, als würde er sich mit jeder Wiederholung stärker an seine Entscheidung binden. »Er fragte mich, ob ich das Buch Thot lesen will«, flüsterte er fast.
»Und du hast gesagt, du willst.«
Er nickte.
»Sehr gut«, fuhr Ramose fort. »Die Götter haben beschlossen, dass du an diesem Wissen teilhast. Eine äußerst seltene und ungewöhnliche Gelegenheit für so einen jungen und unerfahrenen Menschen. Das Buch Thot befindet sich teilweise hier. Die Rollen liegen gut versteckt im Allerheiligsten. Die übrigen Rollen werden sicher im Thot-Tempel in Chmunu aufbewahrt. Die jeweiligen Oberpriester sind für ihre Teile verantwortlich.«
»Es existiert also wirklich?« Huy war eher entsetzt als erstaunt. Obwohl seine Versuche, den Isched-Baum, die Halle der beiden Wahrheiten und sogar den Anblick der Götter in das Reich der verschwommenen Erinnerungen zu verbannen, um sein normales Leben als Schüler wiederaufzunehmen, absolut vergeblich waren, hatte er weiterhin insgeheim gehofft, dass alles irgendein kosmischer Irrtum der Maat gewesen sei und das Buch bloß eine Legende wäre. Doch jetzt wurde ihm hier in diesem warmen, gemütlichen Raum in absolut alltäglicher Sprache dessen Existenz bestätigt.
Die Lippen des Oberpriesters verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Du hast daran gezweifelt. Oder besser«, fügte er als kluger Beobachter hinzu, »du fandest Trost im Zweifel. Es existiert tatsächlich, und du wirst beginnen, es zu lesen. Ob ich dir erlauben werde, auch die weiteren Rollen zu öffnen, entscheide ich später. Soweit ich weiß, war der einzige Mensch, der es vollständig begriffen hat, der mächtige Imhotep selbst. Wahrscheinlich wurde er deshalb ausgewählt, mit dir zu sprechen. Ich sollte dich besser warnen«, fuhr er zögernd fort, »das Buch ist ein Labyrinth, und es heißt, wem es gelingt, es vollständig zu entziffern und ins Herz seiner Geheimnisse vorzudringen, der kennt Natur und Wesen von Atum selbst.« Er unterbrach sich und strich mit der Hand über seinen Unterkiefer. Halb betäubt beobachtete Huy, wie der Schein der Lampe einen Ring nach dem anderen aufblitzen ließ, bis die langen Finger schließlich wieder auf dem Tisch zur Ruhe kamen. »Und das, junger Mann, bedeutet unweigerlich Wahnsinn.«
»Aber der große Imhotep ist nicht wahnsinnig geworden«, krächzte Huy. »Er wurde zum Gott.«
»In der Tat.« Der Oberpriester erhob sich. »Was wird es bei dir sein? Wahnsinn oder Vergöttlichung? Du kannst noch kurz mit der Rechet sprechen, und dann ab ins Bett!« Er wickelte sich in seine Leinentücher und ging zu einer kleinen Tür, die im gedämpften Licht kaum zu erkennen war. Dort drehte er sich noch einmal um. »Ich habe Methens Angebot, sich an den Kosten für deine Ausbildung zu beteiligen, abgelehnt. Dieser Tempel übernimmt das allein. Methen ist dir ein wahrer Freund, und du tust gut daran, auf seine Ratschläge zu hören. Für einen Auserwählten ist das zwingend. Ich lasse dich zur gegebenen Zeit holen.« Damit war er verschwunden, und die Tür fiel leise zu.
Huy sah Henenu fragend an. »Einen Auserwählten?«
Sie hob die Augenbrauen. »Für dich natürlich. Meinst du, die Götter verteilen ihre Gaben gewohnheitsmäßig quer über die Jugend Ägyptens wie ungebildete Bauern ihre Saat? Vergiss die falsche Bescheidenheit,
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