Der Seher des Pharao
Manchmal träume ich davon. Vielleicht können wir jetzt, wo du wieder da bist, diesen Tag wirklich hinter uns lassen.«
»Vielleicht. Wenn ich nicht darüber sprechen muss, was aus mir geworden ist.«
»Nun, von mir wird es niemand erfahren«, sagte Thutmosis bestimmt.
Es war die Zeit des Nachmittagsschlafs, doch einige wenige Schüler saßen im Gras vor ihren Kammern. Es dauerte nicht lange, bis sie Huy erkannt hatten, und als die Freunde vor ihrer Kammer anlangten, waren sie von einem ganzen Pulk lärmender junger Männer umgeben, und Huy musste ihre erleichterten Fragen beantworten. Er war überrascht, dass sie ihn anscheinend vermisst und sich Sorgen um seine Gesundheit gemacht hatten und sich nun freuten, dass er wieder da war. »Dein Haar ist ganz schön lang, Huy«, sagte einer und zog sanft daran. »Lässt du es von Pabast wieder abrasieren? Wirst du die Narbe mit deiner üblichen Unverschämtheit zur Schau tragen? Ich würde sie gern sehen.« Gehorsam neigte Huy den Kopf und schob sein dickes Haar beiseite, sodass die erhabene, gezackte Narbe sichtbar wurde und mitfühlende Ausrufe auslöste.
»Ist Sennefer immer noch hier?«, fragte Huy.
»Oh nein!«, sagte ein anderer Junge. »Er wurde einen Tag nachdem er dich mit dem Wurfholz angegriffen hatte, von der Schule verwiesen. Zuvor hat ihn der Vorsteher vor unser aller Augen ausgepeitscht. Erinnerst du dich, wie du damals Schläge bekamst, als du bei den Priesterquartieren herumgeschlichen bist? Das war nichts gegen Sennefers Strafe. Zwanzig Hiebe mit der Weidenrute, und er brüllte schon nach den ersten fünf. Wir haben gehört, er sei jetzt auf der Schule in Chmunu. Wahrscheinlich vergällt er seinen Klassenkameraden dort das Leben.«
Jemand zerrte nachdrücklich an Huys Schurz. Als er sich umdrehte, entdeckte er Samentuser. Das Kind war gewachsen und dünner geworden, aber am bemerkenswertesten erschienen Huy seine Augen. Sie blickten ihn klar und fest an. »Fürst Nacht hat Sennefer untersagt, je wieder ein Wurfholz in die Hand zu nehmen, obwohl er ein Adeliger ist«, sagte Samentuser zögernd. »Der Fürst musste sich beim König persönlich die Erlaubnis für dieses schwerwiegende Verbot holen, und der König hat sie ihm erteilt. Huy, mein unmögliches Verhalten, als ich unter deiner Obhut stand, tut mir leid. Ich bitte dich um Verzeihung.« Um Vergebung heischend streckte er seine Hände mit den Handflächen nach oben aus, und Huy ergriff sie, ohne zu zögern.
»Du warst in der Tat eine verzogene, winselnde Plage«, lachte er, »aber es ist nicht zu übersehen, dass diese Schule auch bei dir Wunder wirkt. Natürlich verzeihe ich dir, kleiner Wurm, ich …«
Samentusers Hände waren immer wärmer geworden. Huy konnte seine Knochen unter einer Haut spüren, die anscheinend all ihr gesundes Fett verloren hatte. Die Wangenknochen des Jungen standen wie Steine vor. Seine Augen waren gerötet, die Lippen rissig. Er rang nach Luft, und sein Atem stank vom Fieber. »Ich sterbe, nicht wahr, Mutter?«, keuchte er. »Ich sterbe?«
Huy zwang sich, das Lächeln auf seinem Gesicht zu halten, und ließ Samentusers Hände vorsichtig los. Er musste sich aufs Äußerste beherrschen, um seine eigenen Hände nicht am Schurz abzuwischen. »Ich bin nur froh, dass du keine Führung mehr brauchst und somit keine Gefahr mehr besteht, dass du meine Geduld auf die Probe stellst«, brachte er heraus. Der Junge verbeugte sich vor ihm und sah danach scheu die Gruppe an. Huy hatte das Gefühl, er würde gleich in Ohnmacht fallen. Schwäche überkam ihn, und er hätte kein weiteres Wort mehr herausgebracht. Eine gewisse Unruhe hinter der kleinen Gruppe rettete ihn. Die Schüler machten der majestätischen Gestalt von Harmose Platz.
»Ihr kommt zu spät zu eurem Nachmittagsunterricht«, sagte er gelassen. »Schwimmen, Ringen, Schießen – eure Ausbilder können es gar nicht erwarten, euch zu bestrafen. Lauft schon! Und du, Samentuser, bist sogar in einem anderen Hof. Verschwinde, ehe ich meine Rute hole.« Die Jungen zerstreuten sich. Thutmosis hatte sich unauffällig neben Huy gestellt, sodass dieser sich auf ihn stützen konnte, während etwas von seiner Kraft zurückkehrte. »Du bist also der Grund für den ungebührlichen Lärm«, sagte der Vorsteher mit erhobenen Brauen. »Willkommen, Huy. Schön, dich zu sehen. Ich hoffe, dass du dich vollkommen erholt hast von dem Schlag. Deinen Brief habe ich bekommen, aber von deinem Onkel habe ich nichts gehört. Dein Status ist
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