Der Seher des Pharao
danke dir für die Dienste, die du mir früher geleistet hast.«
»Ja, du kannst sie wachsen lassen, aber nicht so lang wie irgend so ein Irrer in der Wüste«, entgegnete Pabast pedantisch. Huy lachte.
»Natürlich musst du das letzte Wort haben! Du kannst mich ja dem Vorsteher melden, wenn du siehst, dass meine Haare bis zum Hintern reichen!« Pabast schnalzte mit der Zunge und räumte die schmutzigen Schüsseln mit viel Getöse zusammen. Huy ging in seine Kammer.
Chenti-Cheti stand wie üblich auf Huys Tisch, und Ischats Skarabäus lag zu Füßen des Gottes und glänzte im letzten Tageslicht matt. Huy warf sich vor der Statue nieder, stand wieder auf und sprach zunächst die formellen Gebete, dann bat er den Gott seiner Heimatstadt, eine Möglichkeit zu finden, dass er auf der Schule bleiben könnte, die unheilvolle Gabe in seinem Innern zum Schweigen zu bringen, seinen Unterricht gedeihlich zu machen und seine Liebsten zu schützen.
Er war gerade fertig, als Thutmosis mit zerzauster Jugendlocke und schimmernden Wassertropfen auf der Haut hereinkam. »Meinst du, du schaffst es, weiterhin am Schwimmunterricht teilzunehmen, Huy?«, fragte er und holte ein Leintuch aus seiner Kiste. Er begann, sich heftig abzurubbeln. »Willst du es wenigstens versuchen? Und was ist mit Ausflügen in die Papyrussümpfe? Nascha wird so bald wie möglich wieder mit uns auf Entenjagd gehen wollen.«
»Ich gehe davon aus, dass ich kein Feigling bin, Thutmosis. Lass es mich erst einmal mit dem Badehaus versuchen. Wenn ich mich richtig an die Regeln erinnere, muss man sich vor dem Schlafengehen waschen. Du hast das schon getan, wie ich sehe.«
Thutmosis starrte ihn argwöhnisch an, dann fing er an zu lachen. »Ich hatte deinen merkwürdigen Sinn für Humor vergessen. Nein, ich bin im See geschwommen. Gehen wir zusammen zum Waschen und Einölen, und dann kannst du dich ins Bett legen.«
Huy hatte erwartet, dass ihn der Vorsteher in den nächsten Tagen einbestellen würde, doch von den Tempeloberen war nichts zu hören. Also ging er Morgen für Morgen zum Unterricht, bemühte sich, das versäumte Pensum nachzuholen, aß mittags mit allen anderen in dem lauten Saal, bat sogar den Schwimmlehrer, mit den Schwimmstunden weitermachen zu dürfen. Wo er ging und stand, wurde er von einem zögerlichen Samentuser verfolgt, der sich beeilte, alles aufzuheben – ein Papyrusbündel, einen Pinsel, ein Tuschegefäß –, was Huy vielleicht fallen ließ. Während des Unterrichts, wo er am hinteren Ende des großen Saals zusammen mit anderen seines Alters und seines Kenntnisstands saß, spürte er oft Blicke auf sich ruhen, und wenn er sich umdrehte, sah er, dass ihn Samentuser mit dem Ausdruck dumpfer Verehrung anstarrte. »Ich glaube, er hat sich in dich verliebt«, kicherte Thutmosis, aber Huy fand die Hingabe des kleinen Jungen nicht komisch und nahm ihn eines Tages in der kurzen Pause zwischen Mittagessen und Nachmittagsschlaf beiseite.
»Bedrückt dich etwas, Samentuser?«, fragte er. Statt einer Antwort langte eine kleine Hand hoch und packte den Frosch, der zuvor seine Jugendlocke geziert hatte und nun seine Haare im Nacken zusammenfasste.
»Seit du wieder hier bist, träume ich von dir, Huy«, sagte Samentuser stockend. »Jede Nacht träume ich, dass ich ertrinke. Ich bekomme keine Luft, mein Kopf schmerzt. Du stehst am Ufer des Sees, beugst dich zu mir herunter, streckst die Hände aus und rufst mich, aber ich kann deine Hände nicht erreichen.« Seine Lippen bebten. »Ich weiß, es ist albern, sei bitte nicht böse. Doch ich wache dann auf und möchte dich unbedingt sehen, weil ich solche Angst habe.« Er schluckte und senkte den Blick. »Was meinst du, hat mich jemand verhext? Kannst du mir helfen?«
Huys Kehle war trocken geworden. Er hockte sich hin und nahm den Jungen in den Arm. »Hier sind meine Hände. Wie in deinem Traum strecke ich sie dir entgegen. Aber dies ist die Welt des Wachseins, Samentuser. Ergreife sie.« Er hatte vor, etwas Tröstendes zu sagen, dem Jungen zu erzählen, dass sein Albtraum nichts anderes war als das Ergebnis seiner ständigen Beschäftigung mit der Person Huy, dass er sich mehr den Spielen und anderen gesunden Tätigkeiten mit seinen Klassenkameraden widmen sollte. Doch plötzlich spürte Huy eine machtvolle Kraft hinter sich. Samentusers besorgtes kleines Gesicht, die glatten, hellbraunen Steine der Tempelwand dahinter, der Schrei eines Falken oben am Himmel blieben klar und deutlich. Huy wusste,
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