Der Seitensprung
den Morgenrock an und komm heraus, damit wir alles besprechen können.«
Mit ihm stimmte etwas nicht, daran bestand kein Zweifel. Aber wie gefährlich war er, wie viel Angst musste sie vor ihm haben? Sie wusste nur eins mit Sicherheit. Sie wollte von hier weg, und jetzt hatte sie nichts anzuziehen. Und niemand auf der ganzen Welt würde nach ihr suchen. Und selbst wenn es wider Erwarten jemand täte, hätte er nicht gewusst, wo sie war. Sie musste den Mut aufbringen, das Badezimmer zu verlassen. Hinausgehen und mit ihm reden. »Alles besprechen« wollte sie jedoch auf keinen Fall. Sie hatten absolut nichts miteinander zu tun, und genau das musste sie ihm begreiflich machen. Angewidert betrachtete sie den Morgenmantel. Ein brauner Schmutzrand an der Innenseite des Halsausschnitts. Dann schaffte sie es, ihren Ekel zu überwinden, und zog ihn über, gegen den Geruch von eingewachsenem Schmutz und altem Kleiderschrank ankämpfend.
Sie legte die Hand auf die Klinke und atmete tief durch.
»Ich komme jetzt raus.«
Von draußen war kein Laut zu hören.
Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt. Vor ihr war es dunkel, das Licht im Flur war ausgeschaltet. Instinktiv löschte sie das Badezimmerlicht, um in der Dunkelheit unsichtbar zu sein. Sie öffnete die Tür ein bisschen weiter, und als sie hinausschaute, sah sie Kerzenschein aus dem Zimmer. Sie warf einen Blick auf die Eingangstür, wohl wissend, dass sie selbst gehört hatte, wie die Schlüssel in allen vier Schlössern umgedreht worden waren. Schlüssel, die sich nun in seiner Hosentasche befanden.
Sie machte einen Schritt auf den Kerzenschein zu. Alles war still. Dann blieb sie stehen. Noch ein Schritt, und sie würde für ihn im Türrahmen sichtbar sein. Der plötzliche Klang seiner Stimme ließ sie erschauern.
»Komm.«
Sie rührte sich nicht vom Fleck.
»Komm, bitte. Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken.«
»Was willst du denn? Warum kann ich nicht einfach meine Kleider haben?«
»Natürlich kannst du deine Kleider haben, aber jetzt sind sie ja eingeweicht. Komm rein, dann können wir uns ein bisschen unterhalten, solange sie trocknen.«
Was hatte sie für eine Wahl? Sie machte den letzten Schritt und sah ins Zimmer hinein. Er saß auf der Bettkante. Von ihren Füßen auf der Türschwelle bis zu seinem Bett eine Allee von Teelichtern. Eine geplante Route, die allzu offensichtlich seine Erwartungen verbildlichte. Sie wollte gerade erklären, dass sich das, was bei ihrem letzten Besuch passiert war, nicht wiederholen würde. Doch dann sah sie sein Gesicht und stockte. Er betrachtete nicht sie, suchte nicht ihren Blick. Den geblümten Morgenmantel schaute er an. Und ganz plötzlich, ohne Vorwarnung, verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse, und sein ganzer Körper rollte sich ein und sank zusammen. Er wandte sich ab, und sie begriff, dass er versuchte, seine Tränen zu verbergen. Ihre Verwirrung war vollkommen. Was wollte er überhaupt?
Sie sagte kein Wort. Blieb einfach im Türrahmen stehen, betrachtete ihn. Seine gesamte Körperhaltung bezeugte den misslungenen Versuch, sich vor ihren Blicken zu schützen. Er schluchzte einige Male und blieb mit zu Boden gerichtetem Blick sitzen, strich sich dann mit der Hand über das Gesicht und sah sie zögernd an, schüchtern und verlegen.
»Verzeihung.«
Sie antwortete nicht. Merkte plötzlich, dass das Zimmer verändert war. Die Wände kahl, aber voller schwarzer Löcher von den Nägeln, an denen die merkwürdigen Bilder gehangen hatten.
Sie schaute wieder zum Fußboden auf die Teelichter.
»Jahrelang traute ich mich nicht, Kerzen anzuzünden, aber dann habe ich welche gekauft, falls ich mich trauen würde, wenn du bei mir bist.«
Er sprach die Worte aus wie ein peinliches Geständnis, war ebenso nackt vor ihr, wie sie eben vor ihm im Badezimmer gestanden hatte. Als wollte er sich als Entschuldigung für sein Eindringen auch entblößen. Ihre Angst verflüchtigte sich. Er hatte einfach die Zeichen falsch gedeutet, als sie mit ihm nach Hause kam. Und konnte sie ihm das eigentlich vorwerfen? Er hatte natürlich geglaubt, sie würde sich melden. Dass ihre gemeinsame Nacht ein Beginn war. Hatte in ihr eine Möglichkeit gesehen.
Wenn sie einfach eine Weile blieb und ihn davon überzeugte, dass das zwischen ihnen Vorgefallene ein Fehler war und sie nicht die Absicht gehabt hatte, ihn zu verletzen. Er war nicht gefährlich, er hatte sich nur verliebt und vergessen, sich zu vergewissern, ob sie
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