Der seltsame Mr Quin
den Kopf. So unwichtig diese Sache auch war, sie beschäftigte ihn. Nur deshalb kam er wieder und wieder in dieses Haus. Vielleicht war es nur die Laune einer Frau, doch diese Lösung überzeugte ihn nicht. Mrs Denman war eine zu nüchterne Person mit harten Zügen, die so korrekt Englisch sprach, dass kein Mensch sie für eine Ausländerin hielt.
Sein Wagen hielt vor dem Haus, und Mr Sattersway stieg aus, in Gedanken immer noch mit dem chinesischen Wandschirm beschäftigt. Das Anwesen hieß Ashmead, hatte fünf Morgen Grund und lag in Melton Heath, einem dreißig Meilen von London entfernt gelegenen Ort, der sich etwa zweihundertfünfzig Meter über dem Meer erhob und zum größten Teil von Leuten bewohnt wurde, die über ein großzügiges Einkommen verfügten.
Der Butler empfing Mr Sattersway sehr zuvorkommend. Mr und Mrs Denman seien nicht da – sie waren bei einer Probe –, und er solle sich ganz wie zuhause fühlen. Sie seien bald zurück.
Mr Sattersway befolgte den guten Rat und schlenderte durch den Garten. Nachdem er die Blumenbeete inspiziert hatte, spazierte er einen schattigen Weg entlang und stand plötzlich vor einer Pforte, die nicht verschlossen war. Er ging hindurch. Dahinter lag eine schmale Straße.
Mr Sattersway blickte nach rechts und nach links. Es war eine ganz reizende Straße, die nach guter alter Art viele Kurven hatte. Mr Sattersway fiel die Adresse auf der Einladung ein, die ihm seine Gastgeber geschickt hatten: Ashmead, Harlequins Lane. Ihm fiel auch ein, dass die Bewohner des Ortes noch einen anderen Namen für die Straße hatten. Mrs Denman hatte es ihm einmal erzählt.
»Die Straße des Harlekin«, murmelte Mr Sattersway. »Ich frage mich, ob…« Er bog um eine Kurve.
Später grübelte er darüber nach, warum er nicht erstaunt war, als er plötzlich einem Freund gegenüberstand, einem sehr eigenwilligen Freund: Mr Harley Quin. Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.
»Sie sind auch hier!«, rief Mr Sattersway.
»Ja. Ich wohne im selben Haus wie Sie.«
»Sie wohnen dort?«
»Ja. Erstaunt Sie das?«
»Nein«, antwortete Mr Sattersway zögernd. »Nur – Sie bleiben nie lange am gleichen Ort, nicht wahr?«
»Nur so lange, wie es notwendig ist«, erwiderte Mr Quin. »Ich verstehe.«
Ein paar Minuten gingen sie schweigend weiter.
»Diese Straße …«, begann Mr Sattersway und brach ab.
»Gehört mir«, ergänzte Mr Quin.
»Das dachte ich mir. Irgendwie hatte ich es vermutet. Sie hat noch einen anderen Namen. Die Leute im Ort nennen sie auch Lovers Lane, die Straße der Liebenden. Wussten Sie das?«
Mr Quin nickte. »Vermutlich gibt es in jedem Ort eine solche Straße.«
»Vermutlich.« Mr Sattersway seufzte. Er kam sich plötzlich alt vor, nicht mehr auf dem Laufenden, ein kleiner, vertrockneter Kauz.
»Wo wohl die Straße endet?«, fragte er.
»Sie endet – hier«, erwiderte Mr Quin.
Sie hatten die letzte Biegung erreicht. Dahinter lag eine Abfallhalde. Beinah vor ihren Füßen öffnete sich eine große Grube. Dort blitzten Dosen in der Sonne, andere waren so verrostet, dass sich kein Sonnenstrahl mehr in ihnen verfing. Alte Schuhe lagen da, Zeitungen und Papier und Hunderte von anderen Dingen, für die sich kein Mensch mehr interessierte.
»Eine Müllhalde«, rief Mr Sattersway und schnaufte empört.
»Manchmal kann man dort die schönsten Dinge entdecken«, meinte Mr Quin.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Mr Sattersway und zitierte etwas selbstgefällig: »›Bringt mir die beiden schönsten Dinge in dieser Stadt!‹ sagte Gott. Sie wissen, wie es weitergeht?«
Mr Quin nickte.
Mr Sattersway blickte zu einem eingefallenen kleinen Haus, das am Rand der Grube stand. »Eine nicht besonders schöne Aussicht!«, meinte er.
»Ich glaube, damals war es noch keine Müllgrube«, antwortete Mr Quin. »Soviel ich weiß, wohnten die Denmans nach ihrer Heirat zuerst dort. Als die alten Leute starben, zogen sie in das große Haus. Dann begann man den Steinbruch auszubeuten, und das Haus verfiel.«
Sie wandten sich ab und schlenderten zurück.
»Sicherlich kommen an warmen Sommerabenden viele Liebespaare her«, sagte Mr Sattersway lächelnd.
»Wahrscheinlich.«
»Liebende«, sagte Mr Sattersway. Nachdenklich wiederholte er das Wort, ohne die übliche Verlegenheit, die einen Engländer bei solchen Ausdrücken gewöhnlich befällt. Das lag an Mr Quins Gegenwart.
Der andere nickte, ohne etwas zu erwidern.
»Sie haben Liebenden Kummer erspart, ja, mehr noch, sie
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