Der seltsame Mr Quin
Quin.
»Ist sie denn etwa nicht erledigt? Vielleicht wollte er verschwinden. Das soll bei feinen Herren vorkommen.«
»Glauben Sie, dass er freiwillig verschwand?«
»Warum nicht? Es wäre jedenfalls wahrscheinlicher, als dass ihn ein so gutmütiger Teufel wie Stephen Grant umbrachte. Was hätte er davon, frage ich mich. Stephen trank mal einen über den Durst und warf dem Captain ein paar Wahrheiten an den Kopf und wurde deshalb entlassen. Na, wenn schon! Er fand eine andere Stelle, die ebenso gut ist. Soll das ein Grund sein, um einen Menschen kaltblütig umzubringen?«
»Die Polizei war bestimmt überzeugt von seiner Unschuld«, beruhigte Mr Sattersway sie.
»Die Polizei! Die spielt doch keine Rolle! Wenn Stephen am Abend in ein Lokal kommt, sieht ihn jeder schief an. Sie sind nicht ganz überzeugt, dass er Harwell umbrachte, aber weil sie es für möglich halten, sehen sie ihn scheel an. Kein schönes Leben für einen Mann, wenn alle Leute ihm ausweichen, als hätte er die Pest. Warum will Vater nicht, dass wir heiraten, Stephen und ich? ›Du kannst was Besseres kriegen, meine Tochter. Ich habe nichts gegen Stephen, aber – man weiß es eben nicht …‹«
Sie hielt inne. Ihr Busen wogte vor Empörung. »Das ist grausam, jawohl!«, brach sie von Neuem los. »Stephen tut keiner Fliege was zu Leide! Aber sein ganzes Leben lang werden gewisse Menschen glauben, er habe es getan. Er wird schon ganz seltsam und verbittert. Das wundert mich nicht. Und je mehr er so wird, umso mehr Menschen glauben, dass etwas dran sein muss.«
Sie unterbrach sich wieder. Ihre Augen waren die ganze Zeit auf Mr Quin geheftet, als zwänge sie etwas in seinem Gesicht zu diesem Ausbruch.
»Kann man nichts dagegen unternehmen?«, fragte Mr Sattersway. Er war ehrlich bekümmert. Eine solche Reaktion war unvermeidlich, das sah er ein. Gerade die Dürftigkeit des Beweismaterials gegen Stephen Grant machte es diesem noch schwerer, die Anschuldigungen zurückzuweisen.
Das Mädchen sah Mr Sattersway an. »Nur die Wahrheit kann ihm helfen!«, rief sie. »Wenn man Captain Harwell fände, wenn er zurückkäme! Wenn die wahren Hintergründe endlich bekannt würden…«
Sie brach in Schluchzen aus und rannte hinaus.
»Ein prächtiges Mädchen, aber ein trauriger Fall. Ich wünschte wirklich, dass man etwas tun könnte«, sagte Mr Sattersway.
»Wir tun, was wir können«, erwiderte Mr Quin. »Wir haben immerhin noch fast eine halbe Stunde, bis Ihr Wagen fertig ist.«
Mr Sattersway starrte ihn entgeistert an. »Sie glauben, wir können den Fall lösen, indem wir einfach darüber reden?«
»Sie kennen das Leben gut«, meinte Mr Quin bedeutungsvoll, »besser als die meisten Menschen.«
»Es ist an mir nur vorbeigezogen«, gab Mr Sattersway bitter zu.
»Aber es hat Ihren Blick geschärft. Wo andere blind sind, können Sie sehen.«
»Das stimmt«, antwortete Mr Sattersway. »Ich bin ein sehr guter Beobachter.«
Selbstgefällig plusterte er sich auf. Der bittere Augenblick war vorbei. »Ich sehe es folgendermaßen«, begann er nach ein paar Augenblicken. »Um einer Ursache auf den Grund gehen zu können, muss man die Wirkung studieren.«
»Sehr gut«, stimmte Mr Quin zu.
»In diesem Fall ist die Wirkung, dass Miss Le Couteau – ich meine Mrs Harwell – eine Ehefrau ist und doch wieder keine. Sie ist nicht frei – sie kann nicht heiraten. Und wie wir es auch betrachten, Richard Harwell ist eine dunkle Figur, ein Marin aus dem Nirgendwo mit fragwürdiger Vergangenheit.«
»Das stimmt«, räumte Mr Quin ein. »Sie sehen, was offensichtlich ist und nicht zu übersehen ist: Dass Captain Harwell im Rampenlicht steht und eine verdächtige Figur ist.«
Mr Sattersway sah ihn zweifelnd an. Die Worte schienen ein anderes Bild in ihm heraufzubeschwören. »Hier haben wir also die Wirkung, oder nennen wir es: das Resultat«, fuhr er fort. »Und jetzt können wir übergehen zu – «
Mr Quin unterbrach ihn. »Sie haben das Resultat noch nicht von der rein materiellen Seite her untersucht.«
»Sie haben Recht«, gab Mr Sattersway nach kurzem Nachdenken zu. »Man muss gründlicher sein. Sagen wir also, dass als Resultat der Tragödie Mrs Harwell eine Ehefrau ist und doch wieder keine, dass sie nicht heiraten kann und Mr Bradburn Ashley Grange samt Einrichtung für sechzigtausend Pfund – nicht wahr? – kaufen konnte. Und jemand in Essex hat John Mathias als Gärtner angestellt. Deshalb verdächtigen wir noch lange nicht diesen Unbekannten in
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