Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der seltsame Mr Quin

Der seltsame Mr Quin

Titel: Der seltsame Mr Quin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
als er bereits ziemlich nahe war, dass dort ein großer, dunkler Mann saß, das Gesicht im Schatten. Durch ein bunt verglastes Fenster hinter ihm fiel ein Bündel Strahlen und verwandelte seinen dunklen Anzug in ein farbenprächtiges Kostüm.
    Mr Sattersway wollte sich gerade abwenden, als der Fremde sich leicht bewegte und der andere ihn erkannte.
    »Gott sei meiner Seele gnädig!«, rief Mr Sattersway, der solche altmodischen Ausdrücke liebte. »Das ist ja Mr Quin!«
    Bereits dreimal hatte Mr Sattersway ihn schon getroffen, und jedes Mal hatte sich durch diese Begegnung etwas höchst Außergewöhnliches ergeben. Ein seltsamer Mann, dieser Mr Quin, mit dem Hang, einem die Dinge, die man seit Langem kannte, in einem völlig anderen Licht darzustellen.
    Sofort war Mr Sattersway aufgeregt – angenehm erregt. Seine Rolle war die des Zuschauers, und das wusste er, doch manchmal, wenn er sich in Mr Quins Gesellschaft befand, glaubte er an die Illusion, eine der handelnden Personen zu sein – und noch dazu eine der wichtigsten.
    »Was für eine angenehme Überraschung«, sagte er, über das ganze, vertrocknete ältliche Gesicht strahlend. »Wirklich, sehr angenehm. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«
    »Ich bin entzückt«, sagte Mr Quin. »Wie Sie sehen, habe ich mit dem Essen noch nicht begonnen.«
    Ein ehrerbietiger Oberkellner tauchte aus dem Schatten auf, und Mr Sattersway wandte sich, wie es sich für einen Mann mit feinem Gaumen gehörte, voll und ganz der Aufgabe zu, das Menü zusammenzustellen. Ein paar Minuten später zog sich der Oberkellner mit einem leichten verständnisvollen Lächeln zurück, und einer seiner jungen Trabanten begann seine Dienste. Mr Sattersway wandte sich an Mr Quin und bemerkte:
    »Ich komme eben aus dem Old Bailey. Eine traurige Sache, finde ich.«
    »Er wurde für schuldig befunden?«, fragte Mr Quin.
    »Ja. Die Geschworenen waren keine halbe Stunde draußen.«
    Mr Quin neigte den Kopf. »Ein unvermeidlicher Urteilsspruch – bei diesen Beweisen«, meinte er.
    »Und doch…«, begann Mr Sattersway – und schwieg.
    Mr Quin vollendete den begonnenen Satz für ihn: »Und doch waren Ihre Sympathien aufseiten des Angeklagten. War es das, was Sie sagen wollten?«
    »Ich glaube, ja. Martin Wylde ist ein so netter junger Bursche – man traut es ihm kaum zu. Trotzdem, in letzter Zeit gab es eine Menge netter junger Burschen, die sich als Mörder von der besonders kaltblütigen und abstoßenden Sorte entpuppten.«
    »Zu viele!«, sagte Mr Quin leise.
    »Wie bitte?«, fragte Mr Sattersway, leicht überrascht.
    »Zu viele, was den Fall Martin Wylde betrifft. Von Anfang an bestand eine gewisse Tendenz, diesen Mord als einen von vielen in einer Reihe gleichartiger Verbrechen zu sehen – ein Mann möchte eine Frau loswerden, um eine andere heiraten zu können.«
    »Nun«, sagte Mr Sattersway zweifelnd. »Die Beweise…«
    »Ach!«, sagte Mr Quin rasch. »Ich fürchte, ich kenne nicht alle Beweise.«
    Schlagartig kehrte Mr Sattersways Selbstvertrauen zurück. Ein Gefühl der Macht durchströmte ihn. Er war versucht, sehr dramatisch zu werden.
    »Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Ich kenne die Barnabys, das wissen Sie. Ich kenne die besonderen Umstände. Ich werde Sie hinter die Bühne führen – durch mich werden Sie die Dinge erleben, als wären Sie dabei gewesen.«
    Mr Quin beugte sich mit seinem schnellen, ermunternden Lächeln vor. »Wenn jemand dies kann, dann ist es Mr Sattersway«, murmelte er.
    Mit beiden Händen packte Mr Sattersway die Tischkante. Er war beflügelt, wuchs über sich hinaus. Einen Augenblick lang war er ein Künstler, ein reiner großer Künstler, dessen Medium die Sprache war.
    Rasch, mit einem Dutzend breiter Striche, skizzierte er ein Bild des Lebens in Deering Hill. Sir George Barnaby, ältlich, dick, sparsam. Ein Mann, der ständig von den unwichtigen Dingen im Leben großes Aufheben machte. Ein Mann, der regelmäßig jeden Freitagnachmittag die Uhren aufzog, jeden Dienstagmorgen das Haushaltsbuch kontrollierte und jeden Abend eigenhändig die Haustür abschloss. Ein vorsichtiger Mann.
    Und von Sir George kam er auf Lady Barnaby zu sprechen. Hier wurde der Strich seiner Zeichnung zarter, aber er war nicht weniger sicher. Er hatte sie nur einmal gesehen, doch sein Eindruck von ihr war genau und nachhaltig. Ein lebhaftes, trotziges Geschöpf, bemitleidenswert jung. Wie ein Kind, das in der Falle saß – so beschrieb er

Weitere Kostenlose Bücher