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Der seltsame Mr Quin

Der seltsame Mr Quin

Titel: Der seltsame Mr Quin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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verstohlen. Wo hatte er diesen bestimmten Ausdruck kürzlich gesehen? Diesen Blick von Bestürzung und Betroffenheit.
    »Sind Sie schon einmal hier gewesen?«, fragte Mr Sattersway, mehr um das Schweigen zu brechen als aus wahrem Interesse.
    »Ja. Gestern Abend, nach dem Essen.«
    »Tatsächlich! Ich dachte, das Tor sei dann geschlossen.«
    Der junge Mann zögerte kurz und sagte dann irgendwie trotzig: »Ich bin drübergeklettert.«
    Da blickte Mr Sattersway ihn voll Interesse an. Er besaß eine gute Spürnase. Schließlich war der Unbekannte erst gestern Nachmittag angekommen und hatte kaum die Zeit gehabt, die Schönheit des Hauses und des Gartens noch bei Tageslicht zu sehen. Trotzdem war er sobald wie möglich hingegangen, obwohl es inzwischen bereits dunkel geworden war. Mr Sattersway wandte den Kopf und blickte zu dem Haus mit den verblassten grünen Fensterläden hinüber. Es lag wie immer verlassen da, die Läden geschlossen. Nein, die Lösung des Geheimnisses war nicht dort.
    »Und Sie haben hier tatsächlich jemanden getroffen?«
    Der Unbekannte nickte. »Ja. Er muss vom andern Hotel gewesen sein. Er trug ein Maskenkostüm.«
    »Ein Maskenkostüm?«
    »Ja. Eine Art Harlekin.«
    »Was?«
    Die Frage kam wie ein Peitschenknall von Mr Sattersways Lippen.
    Der andere blickte ihn überrascht an.
    »In den Hotels werden häufig Maskenbälle veranstaltet, soviel ich weiß.«
    »Ja, natürlich«, murmelte Mr Sattersway. »Natürlich.« Er schwieg. Dann holte er tief Luft und fügte hinzu: »Bitte, entschuldigen Sie meine Aufregung. Wissen Sie zufällig, was eine Katalyse ist?«
    Der junge Mann sah ihn verständnislos an. »Nie davon gehört. Was ist das?«
    Mr Sattersway zitierte ernst: »Eine chemische Reaktion, deren Ausgang vom Vorhandensein einer gewissen Substanz abhängt, die selbst unverändert bleibt.«
    »Aha!«, sagte der junge Mann unsicher.
    »Ich habe einen Freund… sein Name ist Mr Quin, und auf ihn trifft das genau zu. Seine Gegenwart ist ein Zeichen, dass sich etwas ereignen wird. Weil er da ist, kommen seltsame Ereignisse ans Tageslicht, werden Entdeckungen gemacht. Und doch – er selbst nimmt an den Dingen nicht teil. Ich glaube, dass Sie gestern Abend diesem meinem Freund begegnet sind.«
    »Er ist ziemlich plötzlich erschienen, der Bursche. Er hat mir einen schönen Schreck eingejagt. Den einen Augenblick war er noch nicht da, und im nächsten stand er neben mir. Beinahe, als wäre er aus dem Wasser hochgestiegen.«
    Mr Sattersway sah auf das Meer hinaus.
    »Natürlich ist das Unsinn«, meinte der andere. »Aber ich hatte diesen Eindruck. In Wirklichkeit könnte nicht einmal eine Fliege sich irgendwo festhalten.« Er blickte über den Rand. »Eine glatte, gerade Wand. Wenn man da hinunterfällt – na, das wäre das Ende.«
    »Ein idealer Ort für einen Mord«, erwiderte Mr Sattersway scherzend.
    Der andere sah ihn verständnislos an. Dann sagte er vage: »Ach, ja! Natürlich!«
    Stirnrunzelnd saß er da und klopfte mit seinem Spazierstock auf den Boden. Plötzlich fiel Mr Sattersway ein, wo er diesen Ausdruck der Bestürzung und des Grolls schon einmal gesehen hatte. Der Hund hatte ihn vorhin so angesehen. Mit der gleichen erschütternden Frage im Blick. Er hatte der Welt vertraut, und was hatte sie ihm dafür angetan!
    Er entdeckte noch weitere ähnliche Eigenschaften, die gleiche Unbeschwertheit, die gleiche Lebensfreude ohne sich viele Gedanken um das Morgen zu machen. Man lebte den Augenblick, die Welt war schön, voll sinnlicher Freuden, die Sonne, der Himmel, das Meer… und dann, was dann? Der Hund war von einem Auto überfahren worden. Was würde mit dem Mann passieren?
    Der Gegenstand seiner Überlegungen riss Mr Sattersway aus seinen Gedanken und er sagte wie zu sich selbst: »Man fragt sich wirklich, wozu das alles sein soll.«
    Vertraute Worte, Worte, die gewöhnlich ein Lächeln auf Mr Sattersways Lippen hervorriefen, da sie ungewollt den angeborenen Egoismus des Menschen verrieten, der glaubt, dass jedes Zeichen von Leben zu seiner Freude oder zu seinem Leid erschaffen wurde. Mr Sattersway antwortete nicht, und der andere fuhr mit einem kleinen, etwas entschuldigenden Lachen fort:
    »Wie man so schön sagt, jeder Mann sollte ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt und einen Sohn gezeugt haben.« Er schwieg und fügte dann hinzu: »Ich glaube, ich habe einmal eine Saat gesät…«
    Mr Sattersway bewegte sich unruhig. Seine Neugierde war erwacht, jenes immer wache Interesse am Leben

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