Der Semmelkoenig
er diesen absoluten Frauenschwarm zum ersten Mal gesehen hatte. Es war durchaus denkbar, dass er Heidi nicht nur bei der Arbeit, sondern auch privat getroffen hatte. Leider war die gespeicherte Handynummer »Wolf« nicht seine gewesen. Bei der Überprüfung am späten Abend kam lediglich heraus, dass sich der ominöse SMS-Schreiber hinter einem nichtnachprüfbaren Prepaid-Handy versteckte. Dieses war – der Klassiker – natürlich nicht zu erreichen und eine hämisch klingende Tonbandstimme hatte in drei Sprachen lediglich darauf hingewiesen, es doch später noch einmal zu versuchen. Trotzdem war Wolfgang nach Hannes Meinung noch nicht aus dem Schneider, denn er konnte sich ja ein Zweitgerät extra zur Verführung Minderjähriger besorgt haben.
Der nächste Kandidat auf der kleinen Liste war gleichzeitig Hannes Wunschtäter: Georg Möller, Sohn des Backmoguls Josef Möller und zufällig Claudia Hubschmieds Verlobter! Er wusste selbst, dass es kindisch war, ihn zu verdächtigen, denn die einzigen ihm vorzuwerfenden Taten waren eine Schlägerei auf dem Volksfest – ganz andere Baustelle, schalt sich Hannes – und die Frechheit, sich halbnackt einem Polizeibeamten präsentiert zu haben. Trotzdem stimmte auch hier etwas nicht. Hannes wusste selbst, dass sehr viele persönliche Faktoren den professionellen Überblick behinderten, aber auch nach deren Abzug ging seine Rechnung nicht auf. Er würde Georg morgen noch einmal ganz objektiv überprüfen müssen.
Im Zimmer war es viel zu hell, aber Hannes hasste Rollläden, denn sie vermittelten ihm immer das Gefühl, lebendig begraben zu sein. So konnte das Licht der Straßenlaterne ungehindert durch das Fenster fallen und lange Schatten in den Raum werfen, die sich je nach Perspektive und Phantasie in etwas Lebendiges verwandelten. Das dort konnte ein Berg sein, hier war ein Riese und in der Ecke erkannte man die geduckte Silhouette von Rotkäppchen, das vermutlich gerade den Strauß für die Großmutter pflückte. Die Vorhänge zu schließen, dazu hatte Hannes keine Lust, denn dann hätte er aufstehen müssen. Seufzend wälzte er sich auf die linke Seite und starrte die Tapete an. Dort flatterten in gleichgroßen Abständen viel zu dicke gelbe Schmetterlinge um Sträußchen aus zarten Blumen. Was für ein Kitsch! Er wäre jetzt lieber in der Jagdhütte und würde durch das Glasdach in den Himmel schauen. Schnaufend drehte er sich wieder auf die andere Seite und schaute durch das halbgeöffnete Fenster. Der Schatten einer großen Eule glitt vorbei. Heute war Vollmond! Deshalb konnte er wahrscheinlich nicht schlafen. Aber eigentlich reagierten doch nur Frauen und Werwölfe sensibel auf so ein Naturschauspiel!
»Muss wohl meine feminine Seite sein!«, tröstete er sich selbst. Apropos feminin; als weiterer Frauenheld durfte Josef Möller nicht vergessen werden. Was hatte die spanische Haushälterin noch gesagt? Hannes hatte dem Kommissar auf die Schnelle nur das Nötigste übersetzt und den Rest erst einmal für sich behalten. Der alternde Bäckermeister habe angeblich die Tochter der Dame verführt. Ines! Erst zarte vierunddreißig Jahre alt! Er musste grinsen. »Fast noch ein Baby!«, hatte die empörte Mutter gesagt! Na, das war eindeutig Auslegungssache. Spanische Kinder wurden vermutlich nie erwachsen. Wie alt Claudia wohl sein mochte? Höchstens Ende zwanzig. Hannes setzte sich auf. »Konzentration!«, wies er sich selbst zurecht.
Ein schaurig heiseres »Chrüüi« ertönte vor seinem Fenster. Was war denn das? Jetzt folgte fauchendes »Kraich-Kraich«. Hannes blinzelte. Das musste eine Eule sein. Wo sie wohl steckte? Vermutlich saß sie mit großen Augen nach Beute Ausschau haltend in einer der Linden, die die Straße säumten. Ja, auch Hannes war ein Jäger. Er würde diese Morde aufklären.
Also, noch einmal zurück zu Möller: reich, mit Einfluss, gewohnt, das zu kriegen, was er wollte, und eine große Schwäche für das andere Geschlecht. Von Maus hatte er erfahren, dass der Bäckermeister seit vier Jahren Witwer war. Man konnte es ihm daher nicht verdenken, dass er sich in den langen Stunden der Einsamkeit auch mal an die Tochter der Haushälterin rangemacht hatte. Ferner hatte er zwei erwachsene Kinder, eine Tochter, die ihm zwei Enkel geschenkt hatte, und leider auch einen Sohn, der seit sechs Monaten mit Claudia Hubschmied verlobt war!
Und schon wieder war er bei ihr angelangt. Das war ja nicht zum Aushalten! Schnaubend schälte sich Hannes aus der
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