Der Sensenmann
führe ich das fort, was ich damals habe unterbrechen müssen.«
Allmählich sah Lady Sarah klarer. »Du möchtest die Kirche in deinen Besitz bringen? Sie soll dir gehören. Du willst sie…«
Er ließ sie nicht ausreden. »Ich werde sie mir holen. Ich werde zeigen, daß ich mächtiger bin als der Teufel, der es nicht geschafft hat. Wie gerne hätte er sie gehabt. Wie gerne hätte er sie zerstört, aber er war einfach nicht stark genug. Ich aber bin es. Ich habe Zeit gehabt, und ich werde in dieser Nacht endlich an mein Ziel gelangen. Dann wird es auf dem Michaelsberg einen neuen Herrscher geben, der selbst den Teufel auslachen kann.«
Sarah Goldwyn merkte allmählich, daß dieser Mensch nicht unbedingt ein Freund des Teufels war. Wenn sie seine Worte richtig verstanden hatte, mußte er sogar ein Konkurrent des Teufels sein. Das konnte sich nur jemand erlauben, der sehr mächtig war, und sie glaubte auch nicht mehr daran, nur einen normalen Hexenjäger vor sich zu haben, der die Jahrhunderte überlebte hatte. Ludwig von Thann war stärker geworden oder war es schon immer gewesen.
Sie schaute ihn an. Sie suchte in seinem Gesicht wie nach Lösungen. War das noch eine menschliche Haut, die sich über die Knochen hinwegzog? Konnte jemand so aussehen, der es geschafft hatte, der Zeit zu trotzen?
Sie wollte dem nicht zustimmen. Hier stand ihr eine besondere Spezies von Dämon oder auch Mensch gegenüber. Wäre John Sinclair hier gewesen, er hätte vielleicht eine Erklärung gehabt, aber Lady Sarah mußte lange überlegen. Die Horror-Oma gehörte zu den Menschen, die ebenfalls auf einen gewissen Erfahrungsschatz zurückblicken konnten. Sie kannte sich etwas im Reich des Bösen aus und wußte auch, wie es ungefähr strukturiert war. Gesamt war es für einen Menschen nicht zu überblicken, und das mußte auch nicht sein. Dazu gab es zu viele. Da spielten Zeit und Raum auf der einen Seite eine wichtige Rolle, und auf der anderen waren sie oft nicht existent, weil für Schwarzblütler grenzenlos.
Sie wollte nicht, daß sich ihre Gedanken verirrten, und stellte ihm deshalb eine Frage. »Du bist stärker als der Teufel? Bist du es?«
Zum erstenmal sah sie ein Funkeln in seinen Augen. »Ich werde es bald sein!«
Sarah hatte schon den Mund geöffnet, um ihm zu antworten, als sie das scharfe Lachen hörte. Es stammte nicht von ihm und auch nicht von ihr. Eine andere Person hatte es ausgestoßen, und sie mußte sich in diesem unterirdischen Raum aufhalten.
Auch der Sensenmann war überrascht worden. Sonst wäre er nicht so schnell herumgefahren. Die Sense machte die Bewegung mit. Sie huschte wie eine blanke Spiegelscherbe durch die Luft und kratzte über den Boden hinweg, weil von Thann sie wie zum Kampf gedreht hatte.
Beide sahen nichts.
Das böse Gelächter war verstummt. Tiefe Stille hatte sich ausgebreitet. Lady Sarah fühlte das Kribbeln auf ihrem Rücken, wie von unzähligen herablaufenden Ameisen hinterlassen. Sie ahnte, daß sie an einem entscheidenden Punkt stand, und selbst ihre Schmerzen hatte sie vergessen.
Beide warteten…
Der Sensenmann drehte sich leicht. Er verließ die Umgebung des Kerzenscheins und tauchte ab in das Dunkel auf der anderen Seite des Verlieses.
Sarah hörte nur die schlurfenden Schritte. Auch sie sah sich um und richtete den Blick gegen die Decke. Dort malten sich die drei Lichtkreise verschwommen ab. Sie berührten sich gegenseitig und liefen ineinander. Und genau in der Mitte hatte sich eine undurchdringliche Schwärze festgesetzt. Von unten her sah es als hätte die Decke genau an dieser Stelle ein finsteres Loch bekommen.
Der Sensenmann kehrte wieder zurück. An seinem Gesicht war nicht zu erkennen, ob er beunruhigt war oder nicht, aber Lady Sarah hatte sich vorgenommen, ihn zu reizen.
»Stärker als der Teufel?« fragte sie bewußt.
»Ja!«
Wieder erwischte sie das Gelächter. Es raste auf sie nieder wie ein Trompetenstoß, und Lady Sarah wußte, daß es seinen Ursprung unter der Decke im schwarzen Loch gehabt hatte.
Jetzt schauten beide hoch.
Lady Sarah kannte die Stelle bereits. Sie beobachtete den Sensenmann, der irritiert war.
Er hatte das Loch gesehen und ließ es nicht aus den Augen. In der Decke flammte es plötzlich auf. Ein zuckendes Feuer, daß so wirkte, als wollte es von oben her mit einer Glutwelle zu Boden fahren. Das geschah nicht. Es blieb in seinem Gefängnis und veränderte sich nur zu einem roten und zugleich düsteren Fleck. Wie das Auge des Teufels, das
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