Der Serienmörder von Paris (German Edition)
Fahrschein abstempelte, trat ein Fremder an ihn heran und erkundigte sich nach der Uhrzeit. Durch das Ablenkungsmanöver gelang es dem Fremden, dem Militärangehörigen mit voller Wucht einen Tritt in die Weichteile zu verpassen, woraufhin ihn drei andere Helfer übermannten. Danach wurde der uniformierte Mann mit verbundenen Augen, geknebelt, die Füße fixiert und mit Handschellen gefesselt aus der Station getragen. Nach sieben Monaten und 20 Tagen intensiver Fahndung war Marcel Petiot endlich gefangen worden!
Man brachte ihn nach Reuilly und zwang Petiot dort, das Armband der FFL abzulegen und die Uniform auszuziehen, damit er „nicht länger die Würde der französischen Armee besudelt“. Der Mordverdächtige trug einen geladenen Revolver Kaliber 6.35 bei sich, 31.780 Francs Bargeld und eine große Anzahl falscher Ausweise sowie Blanko-Dokumente für Hausdurchsuchungen, Befehle und Verhaftungen. Darüber hinaus fanden sich in seinem Besitz ein nur acht Tage alter Mitgliedsausweis der kommunistischen Partei mit der Nummer 268.004 und ein Mitgliedsausweis (Nummer 29.097) für das kommunistische Freundschaftskomitee Frankreich/UDSSR. Zusätzlich besaß Petiot Lebensmittelkarten unter verschiedenen Namen, darunter die eines kleinen Jungen namens René, dessen Nachname entfernt und ersetzt worden war. Zu dem Zeitpunkt ließ sich die Identität des Kindes nicht klären, doch die Polizei sollte schon bald eine Idee haben, um wen es sich handeln könnte.
Bedenkt man die durch die Morde ausgelöste wahre Schwemme an Presseberichten, hätte auch die Verhaftung die Titelseiten dominieren müssen, was aber nicht der Fall war. Obwohl regelmäßig in den französischen und den internationalen Zeitungen Reportagen erschienen, verwehrten sich viele der ehemaligen Untergrund-Blätter, die jetzt natürlich offiziell vertrieben wurden, dem Thema, da es einen unliebsamen Schatten auf die Vergangenheit warf. Es war sehr peinlich – um es gelinde auszudrücken –, dass sich der Mann als Anhänger der Résistance brüstete. Seine Geschichte führte zu einigen unwillkommenen Fragen, die man am liebsten vermied. Darüber hinaus war der Fall Petiot so marktschreierisch von der Besatzungspresse behandelt worden, um damit von der bitteren Realität der Okkupation abzulenken, dass es die Herausgeber der ehemaligen Résistance-Presse befremdete.
Albert Camus’ Combat lässt sich als gutes Beispiel für diesen Trend heranziehen. Die Herausgeber schrieben über Petiots Verhaftung und erklärten danach ihre Zögerlichkeit, über den wahrhaft monströsen Fall zu berichten: „Wir sind der Ansicht, unsere journalistischen Verpflichtungen mit einer kommentarlosen Berichterstattung erfüllt zu haben. Wir werden weiterhin über Petiot informieren, doch wir wehren uns, einen Fall zu glorifizieren, den wir in mehrerlei Hinsicht für verabscheuungswürdig erachten.“ Die Reaktion war höchst unglücklich, wenn auch hinsichtlich der veränderten Umstände des Herbstes 1944 verständlich. Ohne eine breit angelegte Ermittlung konnten viele den Fall betreffende Fragen nicht zufriedenstellend geklärt werden.
Der Mann, der Petiot verhaftete, Capitaine Simonin, war selbst ein Rekrut der Résistance, und zwar einer von ungefähr 10.000 Agenten, die zum expandierenden Geheimdienst gehörten (DGER: Direction Générale des Etudes et Recherches), der dem Kriegsministerium unterstand. Eigentlich war Simonin nicht sein richtiger Name. Er hatte gar keine Befugnis von der französischen Polizei, Verhaftungen vorzunehmen. Später klärte sich seine Identität. Es handelte sich um den 31-jährigen ehemaligen Polizeibeamten Henri Soutif, der als „Commissaire des renseignements généraux“ (Kommissar des Geheimdiensts) von Quimper im Norden Frankreichs eng mit den Besatzungskräften kollaborierte und die Verhaftung, Folter und Deportation vieler Franzosen befahl …
Simonins gewaltsame Verhaftung des Arztes geschah zu einem mehr als günstigen Zeitpunkt. Unter den sich in Petiots Besitz befindlichen Papieren war auch ein auf ihn ausgestellter Marschbefehl zum DGER-Büro nach Saigon. Hoffte Petiot, nach Französisch-Indochina flüchten zu können, darauf spekulierend, beim Sanitätsverband des Geheimdienstes zu arbeiten? Es stellte wahrscheinlich seine letzte Option dar. Petiots Abreisetermin war für den 2. November 1944 vorgesehen gewesen.
Doch die vielleicht größte Überraschung entsetzte alle. Capitaine Henri Valeri und Marcel Petiot waren ein und
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