Der Serienmörder von Paris (German Edition)
Selbstfindungsprozess bestand im Entfernen von Kollaborateuren aus Macht- und Schlüsselpositionen. In einigen Fällen wurde das durch den Obersten Gerichtshof durchgeführt, der extra für die juristische Verhandlung von Fällen von Landesverrat gegründet worden war. Manchmal nahmen die Menschen das Gesetz selbst in die Hand, lynchten Kollaborateure, vollstreckten Gruppenerschießungen oder eine Vielzahl von weitreichenden Bestrafungen durch eine Art Bürgerwehr. Frauen, beschuldigt sich sexuell mit dem Feind eingelassen zu haben – die sogenannte „horizontale Kollaboration“ –, wurden schnell zu Opfern des entfesselten Zorns des Mobs.
Die gierige Meute rasierte geschätzten 10.000 bis 20.000 Frauen das Haupthaar. Man zog sie komplett aus oder zerriss ihre Kleider zu Fetzen, teerte oder tätowierte ihnen Hakenkreuze auf die Brüste und ließ sie durch die Straßen marschieren. Manchmal trugen sie Schilder mit der Aufschrift „Ich hurte mit den Deutschen“ um den Hals. Einige von ihnen – Mütter – trugen Babys in den Armen. Deutsche Behörden schätzten, dass während der Besatzung 50.000 bis 75.000 Kinder von deutschen Vätern und französischen Müttern das Licht der Welt erblickten. Die vor wenigen Jahren veröffentlichte Studie von Jean-Paul Picaper und Ludwig Norz mit dem Titel Die Kinder der Schande (2004) geht von einer Zahl von ungefähr 200.000 aus.
Die brutalen Racheakte geschahen häufiger im Süden Frankreichs, da dort die Spannung zwischen der Résistance und der Miliz weitaus größer gewesen war. Viele Orte wurden von der französischen Résistance befreit und nicht von den Alliierten. Keine französische Stadt konnte sich während des Zweiten Weltkriegs rühmen, völlig immun gegenüber Kollaborationen gewesen zu sein. Insgesamt kamen 310.000 Fälle mit insgesamt 350.000 Einzelpersonen im Rahmen der „Spionage für den Feind“ zur Anklage. Ungefähr 60 Prozent mussten aus Mangel an Beweisen eingestellt werden. Von den 125.000 Fällen, die vor Gericht verhandelt wurden, endeten ungefähr 100.000 mit Verurteilungen, obwohl davon exakt 49.723 lediglich mit dem Schuldspruch „Unwürdiges Verhalten gegenüber der Nation“ bestraft wurden, den man weder mit einer Gefängnis- noch mit einer Geldstrafe ahndete. Auf 25.901 Verfahren folgte eine Gefängnisstrafe und 13.339 Personen mussten Zwangsarbeit verrichten. Offiziell wurden 7.055 Angeklagte mit dem Tod bestraft, obwohl man die überwiegende Anzahl der Urteile nicht vollstreckte.
Die Schätzungen der Gruppenhinrichtungen ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren sind in den letzten Jahren nach unten korrigiert worden. Lange Zeit glaubten Historiker, dass 30.000 bis 100.000 Menschen kurz nach der Befreiung eines gewaltsamen Todes starben. Jüngere Studien setzen die Zahl bei 8.000 bis 9.000 an. Eines steht fest: Der Euphorie der Befreiung folgten bittere und hasserfüllte Racheaktionen und Kontroversen. Kriegsveteran und Geheimdienstagent Roger Wybot verglich die Atmosphäre bei der Suche nach Kollaborateuren mit „der Börse im Moment des einsetzenden Wahnsinns“.
Einige Franzosen glaubten, dass die unverhältnismäßige „Säuberung“ verdächtiger Kollaborateure das wackelige Fundament beim Einheitsfindungsprozess des Landes unterminierten. François Mauriac gehörte zu den vielen, die zur Vorsicht mahnten und für Versöhnung statt Rache plädierten, während sich die französischen Politiker der Herausforderung stellen mussten, das Land wieder aufzubauen. Andere wiederum, wie Albert Camus in der Zeitung Combat , sprachen sich für ein noch härteres Vorgehen gegen die Kollaborateure aus. Sie sollten ohne Gnade für die von ihnen verübten Grausamkeiten büßen. Der Autor von Der Fremde war noch weit von der stark oppositionellen Haltung gegenüber der Todesstrafe entfernt. Captain Henri Valeri, der am Fall Petiot arbeitete, stimmte Camus zu und drängte seine Männer in der Kaserne und Waffenkammer in Reuilly, keinerlei Gnade bei der Verfolgung ehemaliger Kollaborateure zu zeigen und sie von den neuen Posten zu entfernen. Laut seiner Aussage benutzte Frankreich bei dieser Aufräumaktion Augenbrauen-Pinzetten, wobei das Instrument der Wahl eigentlich eine Schaufel hätte sein müssen.
Am Morgen des 31. Oktober 1944 schritt ein Mann in einer khakifarbenen Uniform, einem Käppi, einem Armband der FFL, einer dunklen Brille und einem üppigen Bart auf die Plattform der Métro-Station Saint-Mandé-Tourelle. Um 10.45 Uhr, als er den
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