Der Serienmörder von Paris (German Edition)
herauszufinden, ob es der Kandidat ehrlich meinte. Da die Cadorets den Preis ablehnten, konnte er sich sicher sein, dass ihm keine Gestapo-Informanten gegenüber saßen. Er habe ihnen später die bis zu dem Zeitpunkt entstandenen Kosten erstattet.
Floriot wollte den genauen Grund des Zerwürfnisses herausarbeiten. Wer hatte zuerst abgesagt? Cadoret musste zugeben, dass er Eryane Kahan kontaktiert hatte, um abzusagen, sie ihm aber direkt mitgeteilt habe, dass Petiot keinerlei geschäftlichen Kontakt mit ihm und seiner Familie mehr wünsche.
Wieder einmal hatte die Verteidigung einen Punktesieg errungen. Doch die Frage stand im Raum, warum Petiot einen Klienten abgelehnt hatte, der seinen Test bestanden hatte, also nicht für die Gestapo spioniert hatte. Behauptete der Arzt etwa nicht, eine Fluchthilfeorganisation anzuführen? Und falls er keine geleitet hatte – was bedeutete das im Kontext der Aussage, dass er anderen bei der Flucht nach Südamerika geholfen hatte? Die Widersprüchlichkeiten wurden leider nicht durch ergänzende Fragen aufgeklärt.
„Werden wir das Vergnügen haben, Madame Cadoret heute Nachmittag zu sehen?“, fragte Petiot, als ihr Mann den Zeugenstand verließ.
Joseph Scarella war als nächster Zeuge an der Reihe. Der Geschäftsführer des Café Weber gehörte zu den Patienten Petiots. In diesem Fall hatte der Arzt ihm dabei geholfen, der Deportation nach Deutschland zu entgehen. Petiot hatte ein falsches Attest ausgestellt, mit der Begründung, dass Scarella an Syphilis leide. Scarella erklärte seine Fluchtabsichten, dass es für einen Hotelfachmann im besetzen Paris so gut wie keine Arbeit gegeben habe, außer, man war bereit, den Deutschen zu dienen. Als er Petiot auf eine Flucht angesprochen habe, sei ihm angewiesen worden, eine Summe von 100.000 Francs bereitzustellen und als Sicherheit Juwelen mit sich zu führen, denn angeblich konnte es in Argentinien eine Weile dauern, bevor man Arbeit finden würde.
Und warum hätten die Scarellas diese Möglichkeit nicht genutzt? Der Zeuge sagte, er hätte sich schon vorbereitet, doch seine Frau habe sich geweigert.
Als Scarella den Zeugenstand verließ, war es 17.15 Uhr. Die Zeugen, die eigentlich noch befragt werden sollten, hatten den Gerichtssaal schon längst verlassen. Leser schloss daraufhin die Verhandlung. Es war ein weiterer langer Tag in einem Prozess gewesen, der anscheinend immer reißerischer und kontroverser wurde. Ein endgültiges Urteil lag noch in weiter Ferne.
EIN KALTSCHNÄUZIGER HUND, DER BRILLANTESTE KRIMINELLE UND DER ÜBERZEUGENDSTE REDNER, DER MIR WÄHREND MEINER LANGEN KARRIERE AUF DEN GEBIETEN DER KRIMINALISTIK UND DER MEDIZIN BEGEGNET IST.
(Dr. Albert Paul über Marcel Petiot)
A m Dienstag, dem 26. März, war der Gerichtssaal erneut bis zum Bersten gefüllt. Möglicherweise hatten sich an diesem Tag die meisten Schaulustigen versammelt, und das nicht ohne Grund, denn die mit Spannung erwarteten Zeugen gehörten zu den Experten auf ihrem Gebiet, darunter der gefeierte und hochangesehene Gerichtsmediziner Dr. Albert Paul. Er sollte sowohl die Geschworenen als auch das Publikum zum „Zähneklappern“ bringen, wie es Le Pays metaphorisch ausdrückte, doch seine Zeugenaussage war längst nicht so schockierend oder überhaupt ausschlaggebend wie im Fall des berüchtigten Frauenmörders Landru.
Der Mediziner trug einen grauen Tweed-Anzug mit einem gefalteten weißen Taschentuch in der Brusttasche. Er beschrieb, wie der Mörder die Kopfhaut der Opfer entfernt und danach die Gesichtshaut mit einem einzigen Schnitt abgezogen habe. Der Schnitt habe seinen Ausführungen nach am Kinn begonnen und über den Haaransatz wieder zum Kinn geführt. Danach habe er den Körper zerstückelt. Trotz einer sorgfältigen und gründlichen Studie der Überreste gab es viele fundamentale Fragen, die Paul und seine Kollegen nicht beantworten konnten. Klugerweise hatte Staatsanwalt Dupin auf die Punkte hingewiesen, bevor die Verteidigung auch nur die geringste Chance besaß, sich darauf zu stürzen.
Paul erklärte, dass sich die von ihnen gefundenen menschlichen Überreste in drei Kategorien einteilen ließen: Leichen, die noch weitestgehend unversehrt waren, verbrannte und gebrochene Fragmente und „100 einzelne Knochen“. Zur letzten Kategorie zählten vier Schlüsselbeinknochen, zehn Schulterblätter, sieben Oberarmknochen, und fünf Ellen sowie vier Speichen (Unterarme). Neben drei vollständig erhaltenen Brustbeinen habe sich ein
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